Die Freiheit geht durch den Magen
Mit der Erfindung des Restaurants wandelte sich das Kochen vom bloßen Sattmachen zu einer Kunst - ausgerechnet im Umfeld der Französischen Revolution begannen experimentierfreudige Köpfe, um die hungrigen Gäste zu wetteifern und einander mit köstlichen Kreationen zu übertreffen. Das Essengehen ist aus unserer heutigen Welt nicht mehr wegzudenken und hat uns immer neue Formen der Zubereitung und auch der sinnlichen Wahrnehmung gelehrt - von der Opulenz des 18. Jahrhunderts bis zur Molekularküche.
Besprechung vom 10.09.2024
Wo sprach der Buddha vom Geschmack der Freiheit?
Häppchenweise: Ute Cohen serviert bekannte und weniger bekannte Geschichten und Anekdoten aus der kulinarischen Welt
Geschmack und Gerüche sind flüchtige Erscheinungen. Vielleicht bringt es das Sujet mit sich, dass Bücher über Kochkunst und Gastronomie nur selten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wer die Welt des guten Geschmacks auch intellektuell erkunden möchte, macht schnell Bekanntschaft mit einer Art Prosecco-Historiographie, die sich durch anregende Gedankencollagen ohne Schwere, aber auch ohne Tiefe auszeichnet. Ein Neuzugang mit allen Nachteilen und Vorzügen des Genres ist Ute Cohens "Geschichte der Kulinarik".
Im Mittelpunkt des Buches steht die Wendezeit um 1800, nicht zu Unrecht, denn auch in der Geschichte der Gastronomie bedeutete die Französische Revolution eine Zäsur. Sie setzte eine große Zahl an Köchen frei, die bis dahin ihren Dienst in den großen Adelshäusern verrichtet hatten. Nun mussten sie sich nach neuen Erwerbsmöglichkeiten umsehen und bekochten fortan alle, die es sich leisten konnten. Restaurants schossen im nachrevolutionären Paris wie Pilze aus dem Boden. Vor 1789 lag die Zahl solcher Etablissements im zweistelligen Bereich, zehn Jahre später bei sechshundert, und weitere zehn Jahre später waren es bereits einige Tausend. Auch Deutschland profitierte von dieser Entwicklung. Den Köchen einiger besonders prominenter Repräsentanten des Ancien Régime wurde die Luft in Robespierres Frankreich zu dünn; also emigrierten sie in das Nachbarland, wie etwa der Koch der Königin Marie-Antoinette, der in Hamburg Fuß fasste. Der Austausch, buchstäblich ein "Blick über den Tellerrand", bereicherte die heimische Küche.
Häppchen für Häppchen serviert Cohen bekannte und weniger bekannte Geschichten und Anekdoten aus der Welt der Kulinarik. Man erfährt, wie die Europäer Kaffee und Kartoffel zu schätzen lernten, wie der listige Meisterdiplomat Talleyrand mit den Kreationen seines Meisterkonditors, des legendären Marie-Antoine Carême, das ramponierte Ansehen Frankreichs aufpolierte und wie das dank Marcel Proust berühmteste Buttergebäck der Weltliteratur, die Madeleine, (angeblich) erstmals 1755 bei einer Soiree des polnischen Königs Stanislaus I. als Ersatz für einen missglückten Kuchen auf den Tisch kam.
Weitere Themen sind die Geschichte der Gabel und der Speisekarte, einzelner Möbelstücke wie des Beistelltisches Guéridon, der Gastronomiekritik und des service à la russe (gemeint ist das sukzessive Auftragen der Gänge, das sich gegenüber dem gleichzeitigen Auftischen aller oder der meisten Gerichte, dem service à la française, nach und nach durchsetzte). Auch radikale Modernisierungsprojekte des zwanzigsten Jahrhunderts kommen zur Sprache, namentlich die "futuristische Küche" der 1930er Jahre, die den Speiseplan der Italiener um das "Fiat-Huhn" bereichern wollte, ein mit Stahlkugeln gefülltes und mit Schlagsahne serviertes Brathähnchen.
Jedenfalls alle die Leser, die sich bislang nicht mit der Geschichte der Gastronomie befasst haben, werden Cohens historische Vignetten mit Gewinn lesen. Doch auch ihnen, soweit Freunde einer klaren Fragestellung und Gedankenführung, mutet der Text einiges zu. Von einer linearen Darstellung und sinnvollen Ordnung des Stoffes kann nämlich keine Rede sein. Manche Kapitel bestehen eigentlich nur aus Abschweifungen und Einschüben, ein Potpourri aus Kochrezepten, Filmkritiken, lebensphilosophischen Bekenntnissen, Insiderinformationen über pikante private Diners, Lobeshymnen auf ausgewählte zeitgenössische Starköche und vielem mehr.
Der assoziative Reigen gerät gelegentlich gar zu toll. Warum etwa die Geschichte der Wiener Kaffeehäuser nicht ohne einen Hinweis auf den Drogenkonsum der nationalsozialistischen Führungskader und deren Vorliebe für Crystal Meth auskommt, lässt sich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Fast scheint es, als ginge es darum, eine möglichst große Auswahl an Lesefrüchten darzubieten, sodass jeder auf seine Kosten kommt. Doch die Delikatessen wollen manchmal nicht so recht munden, weil der Leser nach dem unkonzentrierten Hin und Her längst seekrank ist.
Ein Literaturverzeichnis fehlt. Die Anmerkungen im Anhang sind sehr lückenhaft und genügen keinen wissenschaftlichen Ansprüchen. Nachweise für Einzeiler wie "Philosophie betrieben Platon und Sokrates auch mit dem Magen" oder "So sprach schon der Buddha nicht von der Idee oder dem Konzept der Freiheit, sondern von ihrem Geschmack" wären hilfreich gewesen.
Die Nachlässigkeit und fehlende gedankliche Konstanz ist umso bedauerlicher, als die im Titel des Buches und auch in einigen Kapitel aufgeworfene Leitfrage nach dem Verhältnis von "Geschmack" und "Freiheit", nach dem Zusammenhang zwischen der Art und Weise unserer Nahrungsaufnahme und der Genese "offener Gesellschaften" seit dem achtzehnten Jahrhundert es verdient hätte, ernst genommen und beantwortet zu werden. Es liegt auf der Hand und wird doch so oft ignoriert, dass dem Essen und Trinken, weil es die Menschen unabhängig vom sozialen Status von der Wiege bis zur Bahre begleitet, eine große gesellschaftliche Relevanz zukommt.
Das kulinarische Beisammensein beeinflusst und strukturiert tagtäglich die Kommunikation zwischen den Angehörigen eines Gemeinwesens. Zudem spricht vieles dafür, dass abstrakte Konzepte wie "Freiheit" mit sinnlichen Erlebnissen und Befindlichkeiten verknüpft und durch sie gleichsam physiologisch grundiert sind. Wenn sich - wie um 1800 - eine ideengeschichtliche Wende und ein Wandel der Essgewohnheiten überlagern, ist das ein sehr reizvolles, aber auch schwer zu fassendes Phänomen. Um das Indizienmosaik zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen, bedarf es Geduld und eines systematischen Vorgehens. Kühne Thesen allein helfen nicht weiter.
Trotz der genannten Defizite macht niemand einen Fehler, der sich Cohens Buch zulegt. Zum Preis eines Hauptgerichts erwirbt er ein kurzweiliges abendfüllendes Tischgespräch, von der Art jener, denen Immanuel Kant so gerne beiwohnte, weil er es schätzte, "wenn ein Tischgenosse ihm durch seine abwechselnden Einfälle neuen Stoff zur Belebung darbietet, welches er selbst nicht hat aufspüren dürfen". Nicht mehr, aber auch nicht weniger. DANIEL DAMLER
Ute Cohen: "Der Geschmack der Freiheit". Eine Geschichte der Kulinarik.
Reclam Verlag, Ditzingen 2024. 272 S., geb.
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