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Besprechung vom 04.09.2021
Nacht der langen Messer
Wie erzählt man Zeitgeschichte? Uwe Wittstocks "Februar 1933" berichtet von deutschen Künstlern und Literaten in einem singulären Moment.
Um es vorweg zu sagen: Dieses Buch ist ein großer Wurf, weit mehr als eine Fortschreibung von Titeln wie Florian Illies' "1913" oder Hans Ulrich Gumbrechts "1926", die, historische Eckdaten mit kulturellen Umbrüchen verbindend, die synchrone Dimension der Geschichte sichtbar machten: Ungleichzeitigkeit ist das richtige Wort dafür. In seinem Essay über Laokoon spricht Lessing vom fruchtbarsten Augenblick, den der Künstler wählen müsse, um ein Geschehen samt seiner Vorgeschichte und Nachwirkung darzustellen. Der "Februar 1933", den Uwe Wittstock in seinem Buch mit akribischer Detailtreue dokumentiert, war und ist solch ein fruchtbarer Augenblick - genauer gesagt: ein furchtbarer Augenblick.
Ein Vergleich zu Bildern und Berichten aus Kabul beim Einmarsch der Taliban ist nicht zu weit hergeholt: Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler machten SA, SS und die von Göring gleichgeschaltete Polizei Jagd auf Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden und missliebige Intellektuelle. Wie die Taliban bei Razzien von Haus zu Haus, drangen sie in Wohnungen ein, zerschlugen das Mobiliar, beschlagnahmten oder verbrannten Manuskripte und Bücher wie in der linken Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz, wo Berliner Passanten sich aktiv an Übergriffen beteiligten. Wer ins Columbiahaus und andere improvisierte Foltergefängnisse eingeliefert wurde, konnte von Glück sagen, wenn er oder sie mit dem Leben davonkam. Ähnlich wie beim Evakuieren des Flughafens Kabul ging es am Anhalter Bahnhof zu, wo Heinrich Mann und andere Koryphäen der Kunst und Literatur im Gedränge untertauchten, um, getarnt als Reisende mit Regenschirm und leichtem Gepäck, nach Wien, Prag oder Paris zu entkommen. Aus der Emigration kehrten viele von ihnen nie oder erst nach langwieriger Odyssee in deutsche Lande zurück.
Uwe Wittstock tat gut daran, sich auf die Schicksale von Künstlern und Literaten zu konzentrieren, deren Leidensweg 1933 begann und nicht, wie von üblen Nachrednern behauptet, im "Logenplatz des Exils" endete: Ernst Toller, Stefan Zweig und Walter Benjamin nahmen sich auf der Flucht vor den Nazis das Leben - um nur diese Namen zu nennen. Nicht minder erschütternd ist die Bilanz der Gewalttaten und Morde, denen nicht nur Sozialdemokraten und Kommunisten, sondern auch SA-Leute und unbeteiligte Passanten zum Opfer fielen, so dass man von einer Bartholomäusnacht sprechen kann, aus der Deutschland erst 1945 erwachte.
Im Februar 1933 genügten wenige Wochen, um die Verfassung auszuhebeln, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit abzuschaffen und den demokratischen Rechtsstaat durch ein Terrorregime zu ersetzen, das an Menschenverachtung schwer zu überbieten war. Hermann Göring, damals preußischer Innenminister, hat Ziele und Methoden der Naziherrschaft mit zynischer Brutalität offengelegt: "Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen Bedenken. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!"
Der in diesen Sätzen enthaltenen Morddrohung begegneten die auf der Abschussliste stehenden Intellektuellen mit Witz und Ironie - nicht, weil sie die Gefahr unterschätzten, sondern weil nur Galgenhumor das Inkommensurable erträglich machte. "Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte", sagte der Maler Max Liebermann, als er den Fackelzug der SA durchs Brandenburger Tor marschieren sah, und in einem offenen Brief bat Oskar Maria Graf die Machthaber, auch seine Bücher zu verbrennen, weil er ein erklärter Gegner des Naziregimes sei.
Weniger bekannt ist Heinrich Manns kampfloser Rückzug aus der Preußischen Akademie, den Wittstock ausführlich referiert: Ebenso wie Käthe Kollwitz kam er durch seinen Austritt dem Ausschlussverfahren zuvor, das Akademiepräsident Schillings in vorauseilendem Gehorsam anstrengte, weil beide zur Wahl linker Parteien aufgerufen hatten, und beugte sich so dem Willen von NS-Kultusminister Rust. Alfred Döblin profilierte sich in der Debatte durch sein mutiges Eintreten für Freiheit und Demokratie, während der erst vor kurzem zugewählte Gottfried Benn sich unrühmlich hervortat, indem er Hitlers Machtantritt als historische Zäsur begrüßte, ohne zu ahnen, dass auch er bald als Asphaltliterat gebrandmarkt und mit Schreibverbot belegt werden würde. Originalton Benn: "Die Revolution ist da, und die Geschichte spricht. Wer das nicht sieht, ist schwachsinnig. Nie wird der Individualismus in der alten Form, nie der alte ehrliche Sozialismus wiederkehren."
Fast alle, die Rang und Namen hatten am Ende der Weimarer Republik, kommen in Wittstocks klug komponierter Collage zu Wort: Von Erika, Klaus und Thomas Mann über Erich Kästner und Harry Graf Kessler bis zu Carl Zuckmayer, von Brecht über Fallada und Remarque bis zu Else Lasker-Schüler und Mascha Kaléko. Vollständigkeit anzustreben wäre sinnlos angesichts uferloser Breite des Stoffs, wie der Autor zu Recht konstatiert. Zwei sich überschneidende Kreise aber fehlen: zum einen der George-Kreis, dessen Gründer 1933 noch lebte und sich der Vereinnahmung durch das NS-Regime entzog, zum andern die Frankfurter Schule, deren Vordenker rechtzeitig emigrierten, weil sie den Antisemitismus empirisch untersucht und das Unheil vorausgesagt hatten.
Was für das Fehlen prominenter Zeitzeugen wie Stefan George und Walter Benjamin entschädigt, sind intime Einblicke ins Treiben der Haute Volée beim Presseball, wo Zuckmayer und der Flieger Udet sich im Suff verbrüdern. Oder die von Goebbels befohlene Liquidierung eines SA-Führers, der sich damit brüstet, er werde Goebbels erschießen, falls der die SA um die Früchte des Sieges betrügt: Eine Vorwegnahme des Röhm-Putschs, die in Mafiamanier mit der Ermordung des SA-Manns und einem von Goebbels inszenierten Staatsbegräbnis endet. Wittstocks Politkrimi lebt von der Auswahl und Anordnung des vorgefundenen Materials; der Autor tritt hinter den erzählten Ereignissen zurück und erzeugt so einen Sog, der die Lektüre zur Achterbahnfahrt macht.
HANS CHRISTOPH BUCH.
Uwe Wittstock: "Februar 1933". Der Winter der Literatur.
C. H. Beck Verlag, München 2021. 288 S., geb.
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