Besprechung vom 15.02.2024
Auf dem Passionsweg der jugoslawischen Volkshelden
Ein Ort, hundert Jahre, viele Menschen: Der Roman "Die andere Vergangenheit" von Vinko Möderndorfer
Bilder haben es beizeiten leichter als andere Formen von Geschichtsfolklore, in das überzugehen, was Jan und Aleida Assmann das kulturelle Gedächtnis nennen. In der Nähe der serbischen Kleinstadt Valjevo steht eine Statue. Sie perpetuiert eine Szene, die in diese Kategorie fällt: Der Partisanenkämpfer Stjepan Filipovic reckt, kurz bevor er im Zweiten Weltkrieg von serbischen Kollaborateuren für seinen Widerstand erschossen wird, beide Arme in die Luft und ruft "Tod dem Faschismus, Freiheit dem Volke".
Diese Losung ist gleichbedeutend mit dem Gründungsmythos des sozialistischen Jugoslawiens, und an diesem Zustand der Synonymität hat die titoistische Geschichtspolitik gehörig mitgearbeitet. An den rufenden und reckenden Partisanen erinnert der Junge Silvester aus dem Dorf Dolina in Vinko Möderndorfers Roman "Die andere Vergangenheit", ein postum zum Volksheld ernannter Soldat, der seinen intrinsischen Genius der Härte des eigenen Lebens entgegendrückt: in der Schule gehänselt, von der eigenen Mutter ungeliebt, von der deutschen Bevölkerung des Dorfes schikaniert, gedichteschreibend von der Literatur getröstet, aber vom Gymnasiallehrer für den Zugang zur Bibliothek sexuell missbraucht, von einem Maulwurf im kommunistischen Widerstand verraten, von den Kollaborateuren im Krieg schließlich so lange gefoltert, bis er nur noch den Ausweg sieht, aus dem Fenster zu springen. Silvester ist ein Archetyp mit Strahlkraft, der Schöngeist, der Philosophenkrieger.
Beide, der fiktive Silvester und der echte Stjepan, ähneln einander auch in den Zeiten, die sie teilen, oder eben nicht. Beide wuchsen auf im ersten südslawischen Staat, dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (später in gleichmacherischer Absicht dem Königreich Jugoslawien) und sahen den ersten Zerfall heranziehen. In der Kriegszeit schlossen sich beide den Partisanen an und starben in der Überzeugung, das Richtige zu tun, bevor ihnen der Staat zuteilwurde, für den sie kämpften - der Passionsweg des "Volkshelden", wie man besonders verdiente Kämpfer nach 1945 in Jugoslawien genannt hat.
Möderndorfer, geboren 1958 im slowenischen Celje, erzählt eine Geschichte von Erinnerung, Vergangenheit und der Überzeitlichkeit von Räumen und Menschen - darüber, dass Familien sterben, ausgelöscht werden, aber es dennoch Kontinuitäten gibt, in denen sie weiterleben. Dabei steht nicht das Leben eines Einzelnen im Zentrum, von der Geburt bis zum Tod - die Spanne der Erzählung erreicht fast hundert Jahre -, sondern die vieler verschiedener Menschen.
In der Zeit vor dem Krieg, im ersten Jugoslawien, erzählt er von Silvesters Mutter und ihrem Gebieter, dem Industriellen, deutschen Nationalisten und Vollblut-Antihelden Oto von Eichhein. Zur Kriegszeit stehen dessen Tochter Maria und ihr Mann im Mittelpunkt, sie eine mit den Nazis kollaborierende Deutschtümelnde, er der slowenischstämmige Bürgermeister, der - nach und nach entmündigt - zusehen muss, wie der Besatzer Major Steiner und seine Paladine mit den undeutschen Slowenen auch die Identität seines Dorfes aus ihm heraus befördern. Der Widerstand aber gewinnt am Ende des Krieges. Wenn dann die deutschen Einwohner zur Deportation auf die Wagen geschafft werden, hat die Erzählung einen Beigeschmack von Totalitarismustheorie.
Die Rahmenhandlung steht nicht nur am Anfang und am Ende der Geschichte, sondern mit vielen Säulen in ihr drin, gewissermaßen als Binnenhandlung. Zu ihrem Beginn sitzen zwei Männer, der Erzähler und sein Freund, auf einem Balkon in Ljubljana, betrinken sich und schmieden literarische Pläne - das schon sind keine Voraussetzungen für ein ausgewogenes Projekt. Immer wieder treffen und äußern sie sich zum Fortschritt der Erkenntnis und des Schreibens, es entsteht der Eindruck, man liest gerade keinen Roman, sondern eigentlich das Ergebnis einer geschichtswissenschaftlichen Forschung. Das wirkt schön szenenhaft, hat aber keinen literarischen Mehrwert.
Die Verknüpfung von Dorf- und Historienroman hat schon seit längerer Zeit Konjunktur in der slowenischen Literatur: Der phantastische Roman "Chronos erntet" der slowenischen Autorin Mojca Kumerdej, 2019 in deutscher Übersetzung erschienen, spielt auch in einem slowenischen Dorf, allerdings zur Zeit der ausgehenden Renaissance. Er wurde mit dem prestigeträchtigen Preis der Preseren-Stiftung ausgezeichnet. Auch Möderndorfer war deren Preisträger (2000) und für drei Jahre Aufsichtsratspräsident der Stiftung. Der gelernte Film- und Theaterregisseur ist seit längerer Zeit literarisch tätig, seit den Siebzigern mit Lyrik, mit Prosa seit den Neunzigern, oft mit Erotik als Sujet. Sein Großwerk "Die andere Vergangenheit" erschien 2017 im slowenischen Original.
Ist das Dorf Dolina wirklich fiktional oder ein Pars pro Toto, ein metaphorischer Kosmos für die slowenische Geschichte? Das lässt der Roman im Dunklen, es gibt viele Widersprüche. Einen Historismus lehnt der Erzähler ab, er will sich davon emanzipieren, "wie es wirklich gewesen ist" (Ranke), und dafür die andere Vergangenheit, andere Vergangenheiten erzählen. Das ist ein hehres Ziel, vor allem, wenn man sich nicht von den großen Linien der Geschichte trennt.
Vielleicht bietet das Buch für ein nichtslowenisches Publikum in der Tat eine andere Vergangenheit, denn es werden viele Bezüge der slowenischen und jugoslawischen Geschichte veranschaulicht: der Antisemitismus, das Nebeneinander von Deutschen und Slowenen, alles durch eine ethnische Brille zu sehen, die Kollaboration, die Tabula rasa und die Neuordnung nach dem Krieg, der Balkanismus, der jugoslawische Geheimdienst UDBA, erst der Hyper-, dann der Antistalinismus in Jugoslawien, später dann die sozialistische Gesellschaft mit ihren oszillierenden Öffnungen und Schließungen, schließlich die Macht brüderlicher Verbundenheit über die Verschiedenheit der Sozialisationen.
Möderndorfer scheitert an der Reproduktion von kurzen Denkwegen, am Pathos des Erwartbaren, der nur deswegen nicht zum Kitsch wird, weil er sich selbst zu ernst nimmt. Mit seinem wiederkehrenden Belehren, jede Vergangenheit könne auch eine andere sein, es sei alles nur die Frage der Erzählung, und seinen anderen Abstraktionen von der Melancholie des Unmöglichen ("alles würde so sein wie früher") steht er immer mit einem Fuß in der Banalität, oft mit beiden.
Man hat sowieso unglaublich viel Sex im Dorf, insbesondere vor dem Krieg, wo die Lüsternheit die einzige Quelle der Zufriedenheit zu sein scheint. In ihrer expliziten Beschreibung rutscht sie fast schon ab ins Pornographische, manchmal ins Plumpe und Groteske, wenn es die letzte Handlung der Volksarmee-Rekruten ist, sich auf dem Bahnwall hinter dem Armeezug körperlich von ihren Freundinnen zu verabschieden. Jedenfalls steht sie dem Fluss des Romans im Wege.
Es ist erzählerisch unglücklich, dass der Autor obendrein die Handlung noch ständig mit den Eskapaden pseudophilosophischer Metareflexion durchlöchert und immer wieder den Briefwechsel mit einem pädophilen Archivar einflicht, der ihn erst mit Material zum Dorf Dolina versorgt, sich irgendwann verliert, und dessen eigentliche Rolle im Dunklen bleibt. Was im Schnelldurchlauf nach einem gelungenen Zeit- und Figurengestrick klingt, entwickelt bei der Lektüre erhebliche Längen. LUCA VAZGEC
Vinko Möderndorfer: "Die andere Vergangenheit". Roman.
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler und Andrej Leben. Residenz Verlag, Salzburg/Wien 2023. 768 S., geb.
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