Ein groteskkomischer Roadtrip durch eine posthumane Welt des Chaos und des Krieges, in der es einen einzigen Gewinner gibt: die Liebe.
Doktor Garin hat den »Schneesturm« überlebt und ist zehn Jahre später Chefarzt auf Titanfüßen von einer psychiatrischen Klinik im Altaigebirge. Hier residieren die sogenannten political beings - Donald, Wladimir, Emmanuel und Angela, Silvio, Shinzo, Boris und Justin - in Luxussuiten. Was sie alle verbindet: Sie essen, hüpfen, denken und sprechen mit dem Hinterteil. Und sind geplagt von komplexen Neurosen. Doktor Garin gelingt es, sie mit seiner speziellen Schocktherapie zu beruhigen. Er will die Menschheit heilen, ihre Zombifizierung verhindern in einer posthumanen Welt, in der es von künstlichen Wesen mit invalidem Körper und Geist nur so wimmelt. Dabei steht ihm seine Assistentin und Geliebte Mascha fest zur Seite. Bis erneut eine Atombombe fällt, das Sanatorium ausradiert wird und der Doktor und sein Team gigantische Bioroboter aktivieren müssen, um auf ihren Rücken zu fliehen. Eine Odyssee durch eine absurde Welt beginnt, die Garin und Mascha voneinander trennt . . . Ein dystopischer Abenteuerroman à la Sorokin - verstörend und unfassbar unterhaltsam.
Besprechung vom 24.02.2024
Ein Land im Ausrastezustand
Auf dem Karussell der Geschichte: Vladimir Sorokin schickt seinen Protagonisten Doktor Garin im gleichnamigen Roman dem Zerfall Russlands hinterher.
Wenn Vladimir Sorokins Bücher vor rund zwanzig Jahren öffentlich von Groupies des damaligen wie heutigen russischen Präsidenten in ein gewaltiges Klo geschleudert wurden, dann verwundert es kaum, dass der Herrscher in Sorokins neuem Roman nichts anderes ist als ein Pobackenpaar mit Augen und nur einen einzigen Satz von sich gibt: "Ich war's nicht."
Das funktioniert erstaunlich gut. Wladimir, wie die Romanfigur nur heißt, ist zusammen mit sieben anderen political beings Insasse einer Heilanstalt. Der titelgebende Doktor Garin kümmert sich im Sanatorium Altai- Zedern um das psychische Wohl von ihm, Angela, Boris, Donald, Emmanuel, Justin, Silvio und Shinzo. Sie alle eint ihre burgerähnliche Körperform, bestehend aus Gesäß, Armen und Augen. Ihre Macken sind unterschiedlich, aber dank Doktor Garin ist der individuelle Zustand mittlerweile weitgehend "stabil". Den schönsten ersten Auftritt dürfte Boris für sich verbuchen, der impulsiv und infantil verlangt, er wolle auf der Stelle alles: seine liebsten Bücher, Dildos, Frauen, Saurier und Rapiere. Leider stirbt Boris schon zu Beginn, denn er und Shinzo überleben einen atomaren Angriff auf das Sanatorium nicht.
Mit der Restgruppe und dem Team aus der Heilanstalt flieht Dr. Garin vor Krieg und atomarer Strahlung durch ein ehedem großes Land, das nun in viele Einzelgebilde zerfallen ist. Vladimir Sorokin schickt seinen akademisch vorgebildeten Pikaro auf eine Tour, die ihn zu einer anarchistischen Bastion, einem altrussischen Gut, einem Zirkus, einem von Zottelorks betriebenen Gefangenenlager und dergleichen mehr bringt. Den ersten Teil der Strecke bewältigen sie mithilfe von Majakowski nachgebildeten überdimensionalen Biorobotern. Wer sich erinnert, dass Sorokin nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine über Putin gesagt hat, dieser habe sich den Ring der Macht übergestreift, dürfte in solchen Szenen das Bild der Hobbits Meriadoc und Pippin vor Augen haben, die mit einem Ent unterwegs sind.
All das sagt viel über das Setting des Romans aus, in dem fehlende Internetverbindung ebenso Probleme bereitet wie ein Angriff von Zottelorks, bei dem Riesen und Zwerge auftreten, Wissenschaft und Animismus zusammengehen. Das lässt an einen anderen russischen Schriftsteller denken: Vor hundert Jahren erlebte Alexander Grin seinen literarischen Triumph. Unter dem Zaren war dieser einzelgängerische Schriftsteller wiederholt verhaftet und verbannt worden, von Mitte der Zwanzigerjahre an geriet er in Konflikt mit dem Sowjetregime, von 1941 an erschienen seine Werke für lange Zeit nicht mehr. In diesen Romanen und Erzählungen schuf er eine exotische, märchenhaft angehauchte Fantasiewelt, in der Naturgesetze oft genug aufgehoben sind; seine Texte bilden ein eigenes Universum, das von einem Kritiker bereits 1934 als "Grinland" bezeichnet wurde.
Auch bei Sorokin fügen sich die einzelnen Texte zu einem großen Universum. Hier kann es daher heißen: Unterwegs mit Doktor Garin geht es weiter durch Sorokinien, dieses in die Zukunft verlagerte Hightech-Mittelalter. Indem Sorokin die Vergangenheit mit der Zukunft verschmilzt, trifft er auch eine Aussage über die Entwicklung Russlands: Nicht Brüche fallen ins Gewicht, sondern Kontinuitäten. Das Karussell der Geschichte dreht sich weiter und weiter.
Was Sorokin jedoch klar von Grin unterscheidet, ist sein Faible für Grobes, Zotiges, Obszönes. Literarisch kann Sorokin alle Register ziehen, weiß genau wie Grin Genres zu mischen, wobei er hohe Literatur durchaus mit Trash würzt und Turgenjews Welt - Sorokins Beschreibung der sibirischen Landschaft braucht sich nicht hinter dem großen Realisten zu verstecken - mit Tom Cruise oder Bruce Willis belebt. "Doktor Garin" könnte durchaus mit einer leicht veränderten Formel aus dem Märchen enden: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann onanieren sie noch heute. Szenen wie die Massenkopulation der Zottelorks provozieren immer wieder. Vermutlich sollen sie das. Auch sie dienen ja der Demaskierung: Sorokin ist in Russland bereits wegen Verbreitung von Pornographie angeklagt worden (ohne Erfolg), nicht aber wegen Extremismus.
Eine solche Demaskierung impliziert eine gewisse Unverzagtheit, und das ist das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Roman, gerade weil sein Autor ein derart hellsichtiger Beobachter ist. Mag Angela in "Doktor Garin" auch tönen: "Als ich noch in der Politik war, gab es die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes höchstens in Science-Fiction-Filmen. Jetzt ist es unsere Realität", und der Atompilz als "Teil der Landschaft" ist sogar so perfide, ihre schöne Heilung im Sanatorium Altai-Zedern zu verhindern. Mag in der Realität Kritik innerhalb Russlands kaum noch möglich sein - Sorokin wird sein Wort weiter erheben.
Nach der "Eis"-Trilogie um die Jagd nach Menschen mit einem "lebendigen Herzen" hat er nun auch für die Figur von Doktor Garin einen Dreierpack konzipiert: Der Vorgänger "Schneesturm" ist bereits 2014 auf Deutsch herausgekommen; er schildert den Doktor in dessen Kampf gegen eine Pest, die Zombies gebiert. Und auf Russisch liegt bereits der dritte Garin-Roman unter dem Titel "Nasledie" (Das Erbe) vor, in dem des Doktors im Mittelband gezeugten Kinder auftreten und der in einem Zug spielt. Er ist der handfeste Beweis für eine Art Mantra, das Garin gerne von sich gibt: "Die Hoffnung ist kein Kleidungsstück" - man kann sie nicht ablegen. Wie in guten alten Blockbustern überlebt der Protagonist (samt Geliebter) die bizarrsten Katastrophen, und Sorokin, längst im deutschen Exil, spendiert seinem Garin ein Happy Ending.
Der jetzt auf Deutsch erschienene Roman "Dr. Garin" könnte also mit einem Motto aus einem nicht nur hierzulande bekannten Road- Märchen enden: Zieh mit uns fort, etwas Besseres als den Tod findest du überall. CHRISTIANE PÖHLMANN
Vladimir Sorokin:
"Doktor Garin". Roman.
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024. 592 S., geb.
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