Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 04.03.2020
Quer durch die kleindeutsche Vielfalt
Wilhelm Bleek gibt ein Bild der Jahrzehnte des Vormärz in einer Folge von anregend erzählten Miniaturen
"Die deutsche Geschichte zwischen 1815 und 1848 hat keinen guten Ruf." Mit diesem Satz beginnt das Buch von Wilhelm Bleek über die Epoche des "Vormärz". Entsprechend ist es die implizite Absicht des emeritierten Bochumer Politikwissenschaftlers, das Ansehen dieser Zeit vom "anstößigen Hautgout" zu befreien, der der "Restaurationszeit bis heute" anhafte. Nun ist es seit dem Ende der großen Projekte zur deutschen Bürgertumsforschung unüblich geworden, die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts in einem rein nationalstaatlichen Rahmen zu betrachten. Schließlich war - nach einer Zeit des Vergessens - das neuerliche Interesse am neunzehnten Jahrhundert von einem globalgeschichtlichen Ansatz ausgegangen, wie ihn schnell zu Standardwerken avancierte Publikationen von Christopher Bayly und Jürgen Osterhammel vorgegeben hatten. Und auch Richard J. Evans Darstellung hatte sich immerhin dem "europäischen Jahrhundert" von 1815 bis 1914 gewidmet.
Gleichwohl ist es legitim, immer auch nach den nationalen Pfaden zu fragen, weshalb David Cannadines britische Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts ungemein lesenswert ist. Allerdings ist die Geschichte Großbritanniens in diesem "Victorious Century" als Geschichte des Empires zwangsläufig von globaler Dimension.
Anders liegt der Fall bei Bleek. Zwar bemüht sich der Verfasser explizit um die Vielfalt seines Untersuchungsgegenstands. Aber durch die Fokussierung auf die Territorien, die später zum Deutschen Kaiserreich zählen sollten, fällt die imperiale Dimension des Habsburgerreichs von Beginn an unter den Tisch. Bleeks kleindeutsche "Vielfalt" spiegelt sich daher eher in der thematischen Heterogenität der Sequenzen, aus denen sich das Buch zusammensetzt: Der Verfasser bietet keine durchgängige Erzählung, sondern präsentiert einen reizvollen, bunten Strauß von 23 "Miniaturen". Mit ihnen greift der Autor Themen und Personen heraus, deren Summe die Bandbreite der damaligen Entwicklungen aufzeigen soll. Dabei schreitet Bleek zunächst im Jahresrhythmus voran: Auf den Wiener Kongress (1815) folgt ein Kapitel über die Einführung der Verfassung im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach (1816). Darstellungen des Wartburgfestes (1817), die Gründung der Bonner Universität (1818) und das Attentat auf August von Kotzebue (1819) schließen sich an.
Erkennbar sind allerdings gewisse thematische Clusterbildungen, die das Vorverständnis verraten, mit dem Bleek an seinen Gegenstand herangeht. So verbirgt sich im Großen und Ganzen hinter den vielen Miniaturen eine traditionelle Modernisierungsgeschichte, fügen sich die Erzählungen letztlich doch zu Mustern fortschreitender Industrialisierung, Urbanisierung, Rationalisierung und Nationalisierung. Damit greifen sie jene Fundamentalprozesse auf, die schon im Fokus der historischen Sozialwissenschaft Bielefelder Prägung gestanden haben - nur eben damals nicht so unterhaltsam erzählt.
Auch die Deutung, wonach es im neunzehnten Jahrhundert in den deutschen Territorien zwar eine umfassende technische, wirtschaftliche und wissenschaftliche, nicht aber eine politische Modernisierung gegeben habe, ist schon bei Hans-Ulrich Wehler zu lesen. Bleek gesteht eingangs ein, dass es gar nicht seine Absicht sei, die geschichtswissenschaftliche Debatte um neue Perspektiven zu bereichern. Es gehe ihm darum, alte Klischees über die Vormärzzeit in Frage zu stellen. Die Annahme politischer Stagnation aber zählt heute ebenfalls zu den Klischees, die in Frage gestellt werden sollten. Auch wäre es wohl möglich gewesen, die latent immer wieder durchscheinenden Modernisierungstheorien durch konterkarierende Erzählungen zumindest zu modifizieren, etwa durch eine Miniatur über die Cholera des Jahres 1831 oder zum Thema Antisemitismus. Letzterer wird hier und da eher beiläufig erwähnt, aber die Gewalt der Hep-Hep-Krawalle gehört zum frühen neunzehnten Jahrhundert ebenso wie Goethes "Faust". Auch die Säkularisierungsthese ließe sich abschwächen, wenn neben dem Hambacher Fest von 1832 mit seinen 30 000 Teilnehmern eine Erzählung über die Wallfahrt zum Trierer Heiligen Rock 1844 mit rund 500 000 Pilgern stünde.
Schließlich geht das von Bleek erzählte halbe Jahrhundert auch dem bis heute nachwirkenden bürgerlichen Selbstverständnis auf den Leim: Sein Vormärz ist eine Epoche nahezu ohne Frauen. Dass sich in dieser Zeit eine "Revolution der Ehe- und Familienbeziehungen" vollzog, wird im Resümee festgehalten, aber nirgendwo näher ausgeführt. Ausschließlich Bettina von Arnim wird die Ehre einer eigenen Miniatur zuteil. Die "als eigenwillig und unbändig" charakterisierte Frau wird darin zur Sympathieträgerin, die nicht nur für eine Anstellung der in Göttingen entlassenen Brüder Grimm und Friedrich Christoph Dahlmanns in preußischen Diensten sorgt, sondern auch den König Friedrich Wilhelm IV. zu sozialpolitischen Maßnahmen motivieren will, um das Elend der in den Berliner Mietskasernen Eingepferchten abzumildern.
Bleek schreibt überaus lebendig und anschaulich, verzichtet aber zumeist darauf, das Erzählte in übergeordnete Perspektiven einzuordnen. Der Stand der Forschung über die "soziale Monarchie" findet sich in dieser Miniatur kaum berücksichtigt. Der Mord an Kotzebue wiederum wird nicht in die Geschichte der Attentate im neunzehnten Jahrhundert eingeordnet, und die am Beginn des Jahrhunderts durchaus zweifelhafte Reichweite nationaler Euphorie wird gar nicht erst diskutiert. Ernst Moritz Arndt und Theodor Körner gelten dem Autor als Protagonisten einer neuen Epoche.
Das Buch glänzt also durch das erzählerische Element, lässt aber den Leser ratlos zurück, sollte dieser dann doch nach Deutungen suchen. Die im Titel und durch die Auswahl der Erzählungen durchscheinende Interpretation vom "Aufbruch in die Moderne" hätte es verdient, vom Verfasser stärker reflektiert zu werden. Auch die postulierte "Eigenständigkeit der vormärzlichen Jahrzehnte" wird im Resümee nicht wirklich deutlich. Die sozialen, wirtschaftlichen und technischen-wissenschaftlichen Entwicklungen, die dort noch einmal zusammengefasst werden, lassen sich gerade nicht auf die erste Hälfte des Säkulums beschränken. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung kam 1848 erst recht nicht zum Stillstand.
Uneingeschränkt zu würdigen ist, dass das Buch ein Lesevergnügen bereitet und auch verdeutlicht, wie viel unsere Gegenwart dem neunzehnten Jahrhundert verdankt, sind doch selbst Bachs "Matthäus-Passion" und der Kölner Dom ohne die Umgestaltungen dieser Zeit nicht zu denken.
BIRGIT ASCHMANN
Wilhelm Bleek: "Vormärz". Deutschlands Aufbruch in die Moderne 1815-1848.
C. H. Beck Verlag, München 2019. 336 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.