Besprechung vom 10.09.2023
Ich denke, also wäre ich
Wolf Haas hat einen Roman über das Leben und den Tod seiner Mutter geschrieben - ein großartiges Lehrstück über Sprache, Gelehrtheit und den Alltag in einem Dorf in Österreich
Maria Alm ist ein Bilderbuchort in Österreich. Zwischen den Bergen des Pinzgaus gelegen, schmiegt er sich zwischen Wälder und Wiesen, und es gibt, wie sich das gehört, Hotels, Restaurants und Skilifte. Aber es gibt dort auch den alten Dorfkern, mit Wirtshaus, Raiffeisenbank, Friedhof und Kirche, deren Turm der "spitzigste in ganz Österreich" ist. Das ist so ziemlich das Erste, was Einheimische den Gästen erzählen, oft mit so einem angedeuteten Grinsen, denn sie sind sich des falschen Superlatives sehr wohl bewusst. Und da merkt man schon, dass die Pinzgauer ein besonderes Verhältnis zur deutschen Sprache haben, und es verwundert nicht unbedingt, dass der Schriftsteller, Wortkünstler und Brenner-Erfinder Wolf Haas aus Maria Alm stammt. In dessen neuem Buch geht es aber nicht um Simon Brenner und einen weiteren Kriminalfall, nein, es geht um Marianne Haas, Wolf Haas' Mutter, um ihren Tod und darum, was fast 95 Lebensjahre in Maria Alm aus ihr und ihrem Sohn gemacht haben.
Auf gerade mal 160 Seiten erzählt Wolf Haas in "Eigentum" also vom Leben seiner Mutter, einfühlsam und ehrlich, wütend und trauernd, charmant und humorvoll, was eine Leistung ist, wenn jemand nur noch ein paar Stunden zu leben hat. Und auch wenn das Buch ein "Roman" sein soll, ist die Erzählung vermutlich recht nahe an der Wirklichkeit. Wolf Haas ist auch im Buch Wolf Haas und wechselt zwischen zwei Perspektiven: der seiner Mutter und seiner eigenen. Marianne Haas spricht den Dialekt der Gegend, sie sagt "bissl" und "nit" und "weißt" und "dassd", und man erfährt, dass sie schon immer ein wenig schrullig war. Sie wiederholt in Thomas-Bernhard-Manier die Worte, wenn sie von ihrem Leben erzählt, "den ganzen Tag nur arbeiten arbeiten arbeiten", nur "gespart gespart gespart", "gerechnet gerechnet gerechnet". Man schließt diese Frau schnell ins Herz, mit ihrem repetitiven Singsang, ihrer bauernschlauen Art und dem resoluten Auftreten, vor dem auch der Sohn zusammenzuckt. So schonungslos und liebevoll hat zuletzt Christian Kracht seine Mutter in "Eurotrash" literarisch verewigt.
Die mütterliche Perspektive wechselt sich ab mit Wolf Haas' Einordnungen und Erinnerungen, die ihm während der letzten drei Tage ihres Lebens und der Zeit bis zur Beerdigung in den Sinn kommen. Man merkt sofort, dass nicht mehr Marianne spricht. Denn sie erzählte, erinnert sich der Sohn, die Geschichten immer in denselben Worten. "In einem sich aufschaukelnden Rhythmus, in einem sich langsam steigernden Tempo, in einer hochkochenden Intonation, in sich um den Hals schlingenden Wiederholungen. So lernte ich schon als kleiner Dreck, dass die Sprache eigentlich Musik ist. Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe, die ganzen Hanseln konnten mir nichts erzählen. Nicht einmal Nietzsche konnte mir was aufs Aug drücken. Ich wusste es spätestens als Fünfjähriger (. . .). Ein Gesang ist die Sprache, die ewige Wiederholung ein Remedium, um in unzähligen Waschgängen den schmerzhaften Sinn hinauszuwaschen aus dem Gesang."
Das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Perspektiven macht "Eigentum" zu einem großartigen Lehrstück. Denn während man zunächst befürchtet, Wolf Haas' gelehrte, präzise, sprachwissenschaftlich fundierte Beobachtungen und dieser Bruch zwischen Alltags- und Hochkultur könnten seine Mutter als schlichte Bergbäuerin bloßstellen, wird man bald eines Besseren belehrt. Der sterbebegleitende Sohn referiert Wittgenstein, einmal sitzt er am Bett der dämmernden Mutter und philosophiert über den österreichischen Hang zum Konjunktiv: "Wäre Descartes aus meiner Gegend gekommen, hätten wir heute weltweit: ,Ich denke, also wäre ich.'" Aber interessant, würde nun der Erzähler aus den Brenner-Romanen sagen: Der Sohn fasst diesen Gedanken, weil seine Mutter und alle anderen in Maria Alm zeitlebens sagten: "Das wären wir also" und "Das hätten wir also".
Und was wäre, fragt man sich dann im Konjunktiv, wenn es genau andersrum ist? Wenn nicht die akademischen Einordnungen der sogenannten Hochkultur und deren von Stilmitteln durchsetzte Sprache hier auf das alltägliche Leben strahlen? Wenn es also das alltägliche Leben selbst ist, schrullige Menschen wie Marianne Haas, die genau so sind, wie sie sind, so sprechen, wie sie sprechen, sich wiederholen, "sich die Welt irgendwie zusammenerzählen", wie es in "Eigentum" heißt, und damit die Bücher von Wolf Haas erst ausmachen? Es wäre, nein: Es ist die schönste und schlauste Würdigung, die man sich vorstellen kann.
ANDREAS LESTI
Wolf Haas: "Eigentum", Hanser Verlag, 160 Seiten
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