Der Dreizehnjährige, der auf die Waage stieg und sich um den Verstand verliebte
" Mit vier Jahren brach ich mir zum ersten Mal das Bein. Mein großer Bruder hatte zusammen mit seinen noch größeren Freunden und deren noch größeren Brüdern eine Sprungschanze gebaut. Eine Schanze baute man, indem man eine Schaufel organisierte und Schnee auf einen Haufen schaufelte. Dann trampelte man darauf herum. Dann fuhr der Beste los und sprang am weitesten. Nach ihm der Zweitbeste am zweitweitesten. Zuletzt mein Bruder. Dann ich. "
Auf diese Weise lernt der junge Mann früh den Vorteil von Unfällen schätzen: Trostschokolade. Und er lernt den Nachteil von Trostschokolade kennen: Übergewicht.
Mit 13 beginnt er in den Sommerferien eine radikale Abmagerungskur. Weil ihn unvorbereitet dieses zauberhafte Lächeln getroffen hat. Das Gute am Verlieben: Die Elsa. Das Problem am Verlieben: Ihr Ehemann. Der Lastwagenfahrer Tscho.
Mit jedem Kilo, das der junge Mann abnimmt, sieht er seine Chancen bei ihr steigen. Als sie mit ihm auch noch eine Spazierfahrt in ihrem neuen Renault 5 unternimmt, heizt das seinen Kalorienverbrauch weiter an. Und der Ferienjob auf der Tankstelle hat den großen Vorteil, dass er immer genau weiß, wann Elsas Mann gerade nach Griechenland oder in ein noch ferneres Land aufgebrochen ist.
Eines Tages taucht der gefürchtete Lastwagenfahrer aber doch überraschend zwischen Diesel-Zapfsäule und Tankstellenshop auf und macht dem jungen Mann ein Angebot, das er nicht ablehnen kann.
Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 06.10.2018
Immer wieder gibt es Löcher in der Welt
Ein Lehrstück übers Sprechen in der Sprachlosigkeit: Wolf Haas fischt mit seinem Roman "Junger Mann" in tiefen Gewässern der Phantasie.
Von Rose-Maria Gropp
Die Mutter sagt: "Du bist nicht dick. Du bist höchstens ein bisschen fester." So hört sich das an, wenn eine Mutter versucht, ihren Knaben zu beschwichtigen, der dreizehn ist, ein Meter achtzig groß und 93 Kilo wiegt. Zu viel Schokolade, als Kompensation für Knochenbrüche, die sich der Bub zuzog beim Versuch, sportiv mithalten zu wollen. Erstmals mit vier Jahren beim Flug über eine selbstgebaute Skischanze, wenn er, im falschen Augenblick, ins Nachdenken kommt: "Rückwärts durch die Knie betrachtet war die Welt immer am interessantesten." Doch genau dann hat die Welt neben der Schanze ein Loch. Am Ende wird diese Urerfahrung dem "Jungen Mann" eine Lehre fürs Leben gewesen sein. Denn immer wieder gibt es Löcher in der Welt, man muss mit den allfälligen Löchern, in die man fällt, leben können, um aus ihnen heraus zu sich zu finden.
Acht Jahre später arbeitet im neuen Roman von Wolf Haas der vornamenlose Knabe - und Ich-Erzähler -, der inzwischen ein Internatsschüler ist, in den Ferien an einer Tankstelle: "Die Kunden nannten mich respektvoll ,Junger Mann'. Außer jenen Vollidioten, die mich ,Fräulein' nannten." Das muss schon kränkend gewesen sein. Es ist die Zeit der ersten "Ölkrise", für Realitätsfreunde also 1973, mit Energieferien und autofreien Tagen und diversen Möglichkeiten, die Fahrverbote zu umgehen. Dort, irgendwo im ländlichen Österreich, beginnt sein abenteuerlicher Weg der Adoleszenz, der ihm mehr als alle Schulweisheit beibringt: die Verliebtheit und auch die Liebe als Form und Fähigkeit unerwarteter Zuwendung - die Fährnisse und Erfolge der Gewichtsreduktion nicht zu vergessen.
Damit das alles aber geschehen kann, braucht es an der Tankstelle eine "Erscheinung" namens Elsa, einige Jahre älter als der adipöse Pubertant, die ein elf Jahre älteres Dorf-Großmaul namens "Tscho" geheiratet hat; es braucht eine wahrlich unvorhersehbare Fahrt mit diesem Tscho in seinem, mit allerlei unerlaubten Sachen außer dem zu transportierenden Öl bestückten Skania-Laster bis ans Meer vor Griechenland. Ein wenig braucht es einen orangefarbenen Renault 5, damals auch noch jung, weil erst seit 1972 gebaut, und einen Alkoholiker-Vater, zuvor Kellner, dem in der Landesnervenklinik, vulgo dem "Irrenhaus", der nächstgelegenen Stadt beigebracht werden soll, nicht immer nur höflich zu sein. Und es braucht die Kraft der Evokation, wie sie der Sprache von Wolf Haas eignet, eingefärbt mit seinem Heimatidiom, um daraus einen kleinen, einen großartigen Roman zu formen. Von dem man am besten nichts vorerzählt, um sein inneres Kraftzentrum nicht zu zerstören, seinen schönen, melancholischen, witzigen Plot.
Wolf Haas ist ein Sprach-Spieler in seiner eigenen Liga, und das beweist er aufs Neue mit "Junger Mann". So etwas kann sich unmöglich lässig hingeschrieben haben, um federleicht beim Leser anzukommen, so etwas muss Schweiß und Tränen gekostet haben (welch letztere, zugegeben, beim Lesen fließen können, solche des Lachens und ein bisschen Weinens, nennen wir das Rührung, diese alte gute Tugend). Spekulationen über autobiographische Untergründung sind müßig, auch wenn es passt, dass der Autor 1960 in Maria Alm im Bundesland Salzburg geboren wurde, dann Internatszögling war wie sein aktueller Held. Solche Erwägungen konnten auch schon 2006 aufkommen, wenn im Roman "Das Wetter vor 15 Jahren" dauernd ein "Wolf Haas" angesprochen ist und spricht. Und wenn man das unbedingt so will, dann war schon das eine Coming-of-Age-Geschichte, ehe deren Konjunktur so richtig losging, zum Beispiel 2010 mit Wolfgang Herrndorfs "Tschick".
Seit "Brennerova" 2014 ist "Junger Mann" Haas' erstes Buch - und sein vierter Roman - außerhalb der "Brenner"-Krimis um den wunderbar begriffsstutzigen Kripo-Inspektor, die ihn berühmt gemacht haben. Unverkennbar ist sein Duktus; entscheidend aber, wie so völlig anders er ihn einzusetzen weiß. Denn Haas schöpft aus einem weit tieferen Fundus als nur dem eigenen Erlebens. Er fischt in den Gewässern der Phantasie, sein erzählerischer Atem ist aufgeladen, nicht zum wenigsten mit unvergesslichen Bildern aus Filmen.
Das sei hier berichtet: Die "Erscheinung" heißt also Elsa, sie wird so Anfang zwanzig sein, hübsch - und auch lockend - wie die Sünde selbst: ",Elsa' kannte ich überhaupt nur von den Grabsteinen. Ich brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, dass es der schönste Name der Welt war, noch vor Gabi und Petra." Später fällt ihm dazu das englische Wort "elsewhere" ein. Elsas wegen wird er fünfzehn Kilo verlieren. Zumal sie von ihm Unterricht in Englisch haben will, was zu Passagen von ziemlicher Komik führt: "Und sie sagte: ,Do you love me?' ,Was?' ,Do you love me out?' ,Was meinst du?' , Ob du mich auslachst!'" Auch sonst sollte man Elsas geistige Fähigkeiten keineswegs unterschätzen.
Als dann die Laster-Reise im Scania nach Thessaloniki beginnt, kann der Knabe, der mit seinem Gewichtsreduktionsprogramm beschäftigt ist, nicht ahnen, dass dieser Trip ihn allererst zum jungen Mann machen wird - ein Entwicklungsschub gewissermaßen. "Junger Mann" wird da zum Straßen-Roman, zum in Sprache gefassten Roadmovie - mit einem Momentum, beinah wie in der Novelle, dem Punkt, an dem sich die Geschichte nämlich wendet. Genau dort zeigt sich die hohe Kunst von Wolf Haas. Er schafft es, einen, wie der Tscho einer ist, dem nichts so fremd ist wie sprachliche Kommunikation, zu fassen zu kriegen: weil ein anderer ihm ungewohnte Widerworte gibt, der seinerseits an der Aufgabe dieses Hinhörens wächst. So wird "Junger Mann" zu einem tragikomischen Lehrstück übers Sprechen in der Sprachlosigkeit, über die Sprache, die sogar einen Körper in seiner Hilflosigkeit erlösen kann. Das klingt so ernst, und das ist es ja auch. Aber die Story ist so herrlich erzählt, und am Ende lächelt leise die feine Melancholie, weil sie doch Spaß versteht - triumphierend.
Wolf Haas: "Junger Mann": Roman.
Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2018.
240 S., geb.
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