Vom Wagnis, selbst zu denken
Welche Philosophie kann uns heute noch leiten? Auf den Spuren von Theodor W. Adorno, Susan Sontag, Michel Foucault und Paul K. Feyerabend entwirft »Geister der Gegenwart» ein großes Ideenpanorama der westlichen Nachkriegszeit. Wolfram Eilenberger erzählt mitreißend vom Aufbruch in eine neue Aufklärung, der direkt zu den Bruchlinien unserer Zeit führt.
Winter 1949: Theodor W. Adorno kehrt aus den USA ins zerstörte Frankfurt zurück, Paul K. Feyerabend kriegsversehrt nach Wien. Wunderkind Susan Sontag besucht Thomas Mann in Los Angeles. Der junge Michel Foucault begeht in Paris einen weiteren Selbstmordversuch. Als Folge der Weltkriegskatastrophe suchen diese vier Selbstdenker ihren Weg in ein neues Philosophieren. Über die kommenden Jahrzehnte revolutionieren sie die Art und Weise, wie wir über unsere Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft nachdenken.
Wolfram Eilenberger legt erneut ein erzählerisches Meisterwerk vor, das am Beispiel dieser vier mutigen Geister von der Kraft der Philosophie kündet, einen Ausgang aus den Engen der Gegenwart zu finden. Voller überraschender Einsichten und befreiender Impulse für unsere Zeit der Krise.
Besprechung vom 11.09.2024
Aufklärung im Quartett
Schmissig der Titel, erfolgreich das Konzept: Wolfram Eilenberger legt den dritten Teil seiner Wege durch die Philosophie des vorigen Jahrhunderts vor.
Wolfram Eilenberger hat seine überaus erfolgreiche philosophiegeschichtliche Trilogie abgeschlossen: Nach "Zeit der Zauberer" (2018) folgte "Feuer der Freiheit" (2020), nun ist "Geister der Gegenwart" über die "letzten Jahren der Philosophie" und den "Beginn einer neuen Aufklärung" erschienen. Der Autor erzählt Geschichten über symptomatische Philosophen und konstruiert aus der Zusammenschau Thesen über den historischen Zeitgeist. Im neuen Buch geht es um die Zeit zwischen 1948 und 1984, und wie in den ersten beiden Büchern führt uns ein Quartett durch die Geschichte, dieses Mal bestehend aus Theodor W. Adorno, Michel Foucault, Paul Feyerabend und Susan Sontag.
Das Auswahlprinzip der Reiseführer folgte in den ersten beiden Bänden demselben Muster: drei berühmte Philosophen plus ein Überraschungsgast. Ins Weimarer Gruppenbild mit Wittgenstein, Heidegger und Benjamin montierte Eilenberger Ernst Cassirer, dem femininen philosophischen Quartett der 1930er-Jahre gehörte neben Simone de Beauvoir, Hannah Arendt und Simone Weil die wenig bekannte Ayn Rand an. Auch dieses Mal schwingt das 3+1-Prinzip mit, allerdings diffuser: Adorno war zwanzig Jahre älter als die drei anderen Philosophen, Sontag ist die einzige im Quartett, die nicht Philosophieprofessorin wurde, ja, nach der Dissertation überhaupt nichts mehr mit der akademischen Philosophie zu tun hatte. Oder es ist ganz aufgelöst: Alle vier waren Medienintellektuelle, Kritiker der akademischen Philosophie und politisch-intervenierende Autoren. Was sie nach Eilenberger miteinander verband: Sie alle suchten "Auswege aus selbstverschuldeter Unmündigkeit", betrachteten Philosophie als ein Verhältnis zur Welt und tendierten zum Nein-Sagen.
Adorno brachte aus Amerika um 1950 seine "Minima Moralia" nach Frankfurt mit, als Vademecum gegen die untergehende Individualität in der verwalteten Gesellschaft und als Morallehre im falschen Leben. Seine Metakritik philosophischer Erkenntnis und seine negative Dialektik entwickelte er im Bannkreis von Auschwitz. Er war der Mentor der Frankfurter Schule, die einer ganze Generation von Studenten eine philosophisch grundierte Gesellschaftskritik vermittelte. Als diese aus der Kritischen Theorie eine revolutionäre Praxis ableiten wollten, kam es zum ödipalen Drama, denn Adorno beantwortete bloß die Frage: "Was nicht tun?" Pseudoaktivitäten und Dogmen waren ihm ein Gräuel.
Die junge Sontag wollte in Chicago dem dümmlichen Alltag mit existenzialistischem Schwung, Begabung und Lust entkommen und gab bald die akademische Laufbahn auf, um als Schriftstellerin zu reüssieren. In kritischer Auseinandersetzung mit Sigmund Freud rang sie um die richtige Lebensführung im offenbaren Elend und fand sie in Paris und in der New Yorker Subkultur. Sie avancierte zur "Zeitgeistseismographin", ihre Philosophieform war der Essay, ihr theoretischer Standpunkt in der Literaturszene hieß "Against Interpretation": Wichtiger als Hermeneutik sei die Erotik der Kunst. Sontags Antikultur wurde in den Achtzigern zum Mainstream.
Der psychisch labile Adoleszent Foucault interessierte sich für Psychologie, Psychiatrie und deutsche Philosophen und studierte quasi "Wahnsinn und Gesellschaft" von innen. Ab Mitte der Sechzigerjahre stieg er kometenhaft auf und forschte über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Denkbaren. Die Regeln der Humanwissenschaften, epistemische Brüche, machtbesetzte Diskurse, alles drehte sich um die Frage: "Was kann ich sagen, was darf ich nicht sagen?" Aber erst nach dem Mai 68, nun Professor an der Reformuniversität Vincennes, wurde Foucault zu einem jener Vordenker der Neuen Linken, die er zuvor noch abgelehnt hatte. Nun kämpfte er sogar auf den Barrikaden gegen die Repression der Polizei und in seinem Beruf gegen andere Institutionen der "Disziplinargesellschaft".
Der Wissenschaftsphilosoph Feyerabend schließlich stellte sich zunächst in die Wiener Tradition des Logischen Empirismus, stellte aber bald fest: Dieser Ausweg aus den Sackgassen von Metaphysik und Dialektik war misslungen, und zwar genau in dem Moment, als sich der institutionelle Siegeszug in Amerika vollzog. Von seinem Lehrer Karl Popper emanzipierte er sich und avancierte zum witzigen und gefragten Enfant terrible der akademischen Welt, der Ende der Sechziger in Berkeley mit seinem "Against Methods" für Furore sorgte. Ein wissenschaftlicher Anarchist, der die akademischen Philosophen für Fachidioten hielt und den manche (zu Unrecht) als einen Querdenker avant la lettre halten, hatte das Spielfeld in Zeiten weltweiter politkultureller Tumulte auf dem Campus eindrucksvoll betreten. "PKF" war sein Markenname (lange vor "CR7"), der für die Trennung von Staat und Wissenschaft (wie im Falle der Kirche) plädierte.
Adornos Metakritik der Erkenntnistheorien, Feyerabends Abkehr vom analytischen Paradigma, Sontags Unbehagen an der Freudschen Lehre und Foucaults Genealogie der "großen Gefangenschaft" stellt Eilenberger als seelenverwandt dar, denn sie trafen sich in der Kritik der Wissenschaft und vertraten, obwohl Parteigänger der Aufklärung, die These: Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gelingt nicht, vor allem nicht im Rahmen akademischen Philosophierens! Diese Parallelsichtung, die mit den jeweiligen Lebens- und Denkwegen, mit zeithistorischen Kontexten und vielen Anekdoten vermittelt wird, ist gleichzeitig der Fluchtpunkt von "Geister der Gegenwart" - ein rasantes, gewitztes und erhellendes Buch.
Warum jedoch die Zeit zwischen den Orwellschen Daten "1948 und 1984" als Periode gefasst wird und es sich im Sinne von Karl Kraus um "die letzten Jahre der Philosophie" gehandelt haben soll, wird nicht begründet. Ebenso bleibt der im Titel behauptete Gegenwartsbezug unerörtert. Die abgehobene, schlagkräftige und assoziationsreiche Titelei scheint dem Rezensenten ein Symptom zu sein, dass die Logik der spielerischen Popkultur dominant ist: Feierabend für die professoralen Würdenträger! Doch der uralte, aber doch längst anachronistische Streit zwischen akademischer und öffentlicher Philosophie, Universitätsprofessoren und Popphilosophen, Gelehrten und Influencern, Beamten und Bestsellern wird mit Übertreibungen von gossips und gags bloß genährt. Dabei zeigt Eilenbergers Trilogie: Die mittelständische Philosophieindustrie verbaut keineswegs kluge Einsichten und erreicht spielend ein großes Publikum. JÖRG SPÄTER
Wolfram Eilenberger: "Geister der Gegenwart". Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung 1948-1984.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024. 496 S., Abb., geb.
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