Besprechung vom 23.06.2024
NEUE REISEBÜCHER
Goethe geht
Eigentlich trägt dieses Buch den falschen Titel. Bei "Deutschland - eine romantische Reise durch unsere schönsten Landschaften" denkt man an weite Täler und blaue Seen (die es, siehe oben, auch gibt), aber nicht unbedingt an große Literaten. Sollte man aber, denn "romantisch" ist hier im alten Wortsinn der 1830er gebraucht: Es geht darum, wie Geistesgrößen Deutschlands Naturschönheit gesehen haben, wenn sie reisten, und wo sie es in Literatur verewigten. Dass Heinrich Heines Harzreise und Thomas Manns Lübeck dabei sind, versteht sich von selbst, aber wer weiß schon, dass der Schriftsteller Gerhard Henschel einmal aus der Südheide, wo Arno Schmidt zurückgezogen lebte, die rund 200 Kilometer nach Nartum bei Bremen gewandert ist, wo Walter Kempowski aufwuchs? Und dass er dabei über das Leben der beiden "literarischen Nachkriegskoryphäen" nachdachte und einen Band dazu verfasste? Zugleich lernte er aber auch eine der schönsten flachen Landschaften Norddeutschlands kennen.
Dieses Buch gibt Wander- und Reiseanregungen und literarische Nachhilfe gleichzeitig. Die Autorin Britta Menzel lässt ihre Leserschaft auf 200 Seiten an ihrem erstaunlichen lexikalischen Wissen teilhaben, und das einzig Bedauerliche an dem so hübschen wie tiefsinnigen Buch ist, dass es kein Glossar hat. Denn immer wieder fragt man sich: Wo fand noch mal die Droste-Hülshoff die Aussicht "fast zu schön"? Mit welchem Dichterkollegen hat Marie-Luise Kaschnitz im Schwarzwald gebadet? Wo hat Fontane die Sturmflut erlebt? (Wem die Spannung jetzt zu groß ist: Auf dem Fürstenhäusle von Meersburg, Peter Huchel, Husum.) Es nützt nichts, man muss blättern und immer wieder eine neue schöne Seite Deutschlands entdecken. Vielleicht den Wanderweg, den Goethe 1777 im Schnee zum Gipfel des Brockens nahm. Oder die unheimlich-bezaubernde Rakotzbrücke, die alles Recht hätte, im "Herrn der Ringe" oder bei "Harry Potter" aufzutauchen. Dieses Buch ist gleichzeitig ein stolzes Coffee-Table-Book, eine Bildersammlung über ein doch erstaunlich schönes Land und eine intensive literaturhistorische Abhandlung. Ach so, eine Einladung zum Reisen ist es auch. tlin
Deutschland. Eine romantische Reise durch unsere schönsten Landschaften. Von Yannick Scherthan und Britta Mentzel. Frederking & Thaler, 45 Euro
Lonely Planet sucht
Die Welt ist entdeckt. Selbst entlegene Orte sind längst erschlossen. Wenn Lonely Planet dann in einem neuen Band gleich "100 neue Reiseziele" verspricht, macht das neugierig. Zudem, so der Anspruch, sollen die vorgestellten Orte nachhaltig zu erkunden sein und dort lebende Menschen vom Tourismus profitieren. Beim Blättern durch den großzügig bebilderten Band fällt zunächst auf, dass viele der Ziele als Alternative für besonders beliebte und überlaufene Destinationen verstanden werden können. Als Alternative für das Atlasgebirge in Marokko bietet Lonely Planet etwa das südafrikanische Lesotho an, statt nach Istanbul ließe sich auch nach Bursa auf der gegenüberliegenden Seite des Marmarameeres reisen, anstatt die Tempel von Angkor Wat ließen sich die weitaus weniger besuchten religiösen Bauten von Banteay Chmar bestaunen. Manche der Alternativen - vor allem in Mitteleuropa - klingen einleuchtend und interessant, andere sind schwer erreichbar, wieder andere bieten deutlich weniger Komfort als das "Original". Wie nachhaltig und sozial verträglich die Orte zu besuchen seien, bleibt leider generell unerwähnt.
Bei zwei Doppelseiten pro Destination ist wenig Raum für Informationen. Diese unterscheiden sich ebenso stark wie die praktische Durchführbarkeit der Reisen. Sind bei manchen Details sogar konkrete Busverbindungen genannt, bleiben andere vage. Die westspanische Provinz Asturien ist sicher ohne Vorab-Infos zu bereisen. Im indischen Grenzgebiet Nagaland unter "Nachfahren von Kopfjägern" Unterkünfte zu suchen, klingt eher abenteuerlich. Als Gedankenreise und Anregung, sich mit "neuen" Orten näher zu befassen, funktioniert der Titel am besten. Und womöglich ist er auch so gedacht. Das würde auch erklären, warum das nordafrikanische Algerien mit dem Charme seiner ehemaligen Kolonialstädte und der Schönheit der Sahara den Auftakt des Buches macht - auch wenn das Land seit dem Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren als nur bedingt sicher gilt und das Auswärtige Amt weiterhin in weiten Landesteilen vor der Gefahr durch Terroristen warnt. cwo
Lonely Planet: 100 neue Reiseziele, 324 Seiten. Hardcover, 34,95 Euro
Wale reisen
Megafauna geht immer im Tourismus, je größer, desto besser, fast wie bei der Großwildjagd. Und es ist für den Artenschutz und insgesamt höchst erfreulich, dass Elefant, Nashorn, Büffel und Blauwal mittlerweile nur noch mit der Kamera geschossen werden und jedes einzelne Tier sozusagen tausendfach wiederwendbar geworden ist. Tourismus schafft neue Formen der Tierliebe, auch, weil sich Ängste bei solchen Begegnungen mit großen Wesen, wenn sie sachkundig angeleitet sind, abbauen lassen. Taucher beispielsweise lieben Haie, und auch Grundschulkinder wissen heutzutage, wie unverzichtbar die großen Prädatoren für das ökologische Gleichgewicht in unseren Ozeanen sind - was anderseits die Filmbranche nicht davon abhält, immer neue Gruselschocker mit Hai in der Hauptrolle auf die Endgeräte zu jagen. Den neuesten Unsinn hat gerade Netflix zu Wasser gelassen, es ist ein mutierter, schnell wachsender Hai, der sich in die gefluteten Katakomben von Paris zurückzieht, um sich dort ungezügelt zu vermehren. Die Vertreterinnen dieser neuen Spezies können das in "Sous la Seine" interessanterweise schon vor Eintreten der Geschlechtsreife. Entdeckt wird das alles kurz vor einem Triathlon, dem Anlass, bei dem im Film der internationalen Presse die Seine als Veranstaltungsort für Schwimmwettbewerbe präsentiert werden soll. Die Sache endet erwartbar im Blutbad.
Da greift man doch besser zum Buch, vor allem, wenn man große Emotionen vor großen Tieren erleben möchte: Leigh Calvez hat eine Liebeserklärung an die Megafauna der Meere geschrieben, hier und da zu gefühlsbetont, um sie im ersten Moment als Naturwissenschaftlerin ernst zu nehmen, aber das legt sich nach ein paar Kapiteln des Buches "Die Reise der Wale". Leigh nimmt ihre Leser mit auf Forschungsreise zu Buckel- und Blauwalen, Delfinen und Orcas und erklärt dabei viel über die Giganten der Tiefe ihre komplexen Verhaltensweisen, was sie bedroht und wer sie schützt. bali
Leigh Calvez: Die Reise der Wale. Knesebeck Verlag,
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