Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 10.09.2024
Ukrainer blicken auf ihr Land
Kein Anhängsel oder gar Bestandteil Russlands: Die Ukraine und ihr Kampf um Wahrnehmung als eigenständiger Staat. Das führt zu Streit - auch im Land selbst.
Zwei Tage vor dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat der russische Präsident Wladimir Putin in einer Fernsehansprache erklärt, warum es dieses Land nicht geben dürfe: Es sei ein künstliches Gebilde, das geschaffen worden sei, um Russland zu schwächen. Damit gab Putin eine Haltung wieder, die in Russland von vielen geteilt wird und offen oder versteckt die Politik des russischen Staates war, seit Mitte des 19. Jahrhunderts die ukrainische Nationalbewegung aufkam. Diese russische Sicht hat auch außerhalb Russlands tiefe Spuren hinterlassen. In unzähligen Büchern über die russische Geschichte wurde das Gebiet der heutigen Ukraine selbst dann noch selbstverständlich als Teil Russlands behandelt, als sie bereits ein unabhängiger Staat war.
Angesichts dessen schreibt der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak, das Hauptthema der ukrainischen Geschichte lasse sich in einem Satz zusammenfassen: "Die Geschichte der Ukraine dreht sich darum, sie als eigenes Land wahrzunehmen, nicht als geographische Region oder Anhängsel." Deshalb sei ein weiteres wesentliches Merkmal der ukrainischen Geschichte: "Alles, oder so gut wie alles, was mit ihr zusammenhängt, wird sofort zum Gegenstand einer hitzigen ideologischen Debatte." Das prägt nicht nur die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland, sondern auch das Selbstverständnis der Ukrainer. Denn sie wurden zu einer Nation, indem sie kontrovers über ihr Verhältnis zu den Staaten stritten, die über ihr Land herrschten.
In "Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation" beschreibt Hrytsak diese Nationswerdung sehr gut lesbar, reflektiert und unideologisch. Das heißt nicht, dass er nicht Position bezöge. In der Einleitung macht er seine - wie er es nennt - eigene "Befangenheit" kenntlich: "Ich möchte die Ukraine als eine liberale Demokratie sehen." Es ist einer der vielen Vorzüge dieses ursprünglich für ukrainische Leser verfassten Buches, dass es dem westlichen Publikum einen ukrainischen Blick auf die Ukraine eröffnet. Hrytsak steht als einer der führenden Historiker des Landes und als wichtige intellektuelle Stimme für die gesellschaftlichen Strömungen, denen die Revolutionen der Jahre 2004 und 2014 entsprungen sind. Aus seinem Buch spricht ein Nationalbewusstsein, das nichts mit Nationalismus zu tun hat.
Auf den in Moskau von Putin zur alleinigen Wahrheit erklärten Mythos, Russen und Ukrainer seien seit tausend Jahren ein Volk mit gemeinsamem Glauben und gemeinsamer Sprache, antwortet Hrytsak nicht mit ukrainisch-nationalen Gegenmythen, sondern mit der nüchternen Feststellung, "dass es Zeiträume in der Geschichte gab, in denen keine Nationen existierten, so wie es keine gedruckten Bücher, Züge oder Handys gab". Er schildert die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Faktoren, die die Entwicklung im Gebiet der heutigen Ukraine seit dem Mittelalter beeinflusst haben, um verständlich zu machen, unter welchen Voraussetzungen sich die Ukrainer in den vergangenen zwei Jahrhunderten als moderne Nation formiert haben - so wie auch andere Völker, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch keinen eigenen Staat hatten, heute aber einen selbstverständlichen Platz auf der europäischen Landkarte haben.
Diese - wie er deutlich macht - keineswegs zwangsläufige Entwicklung bettet Hrytsak in die globale Geschichte ein. Anschaulich beschreibt er zum Beispiel, wie Aufstieg und Niedergang des Kosakenstaates am Dnipro vom 16. bis zum 18. Jahrhundert mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Entdeckung Amerikas, den Ideen der Reformation und europäischen Religionskriegen zusammenhängen. So wird deutlich, dass die Ukraine stets mehr als ein Anhängsel Polens und Russlands war, der beiden Mächte, die ihr Schicksal über Jahrhunderte maßgeblich beeinflussten.
Hrytsak will keine Abfolge von Ereignissen und Namen liefern; vielmehr gehe es ihm darum, "die Prozesse aufzuzeigen, die sich hinter isolierten Ereignissen verbergen", schreibt er. Zwar beginnt er seine Darstellung mit den Ursprüngen des Landesnamens und mit der Entstehung der Kiewer Rus, die im 10. Jahrhundert das erste große Staatswesen auf dem Gebiet der Ukraine war, und beendet sie mit der unabhängigen Ukraine. Aber in allen Kapiteln wird geschildert, wie langfristige Entwicklungslinien zusammenwirken. So führt etwa das Kapitel über die Kiewer Rus bis in die Gegenwart. Schließlich liegt der "lange Schatten der Rus" noch heute über der Ukraine: Mit der Behauptung, die Kiewer Rus sei der erste russische Staat gewesen, begründet Putin seinen Anspruch auf die Ukraine.
Bei diesem Vorgehen ist es unvermeidlich, dass Hrytsak zwischen den Jahrhunderten hin- und herspringt. Es gelingt ihm das Kunststück, den Leser dabei unaufdringlich so zu führen, dass er den Faden nicht verliert. Betont wird diese Herangehensweise mit Einschüben zwischen den Kapiteln. Darin macht Hrytsak anhand der Geschichte des ukrainischen Brotes, des Liedgutes oder der Sprache wesentliche sozialgeschichtliche Faktoren anschaulich. Die Geschichte des Brotes etwa ist auch eine Geschichte des Hungers und der überaus schwierigen ukrainisch-jüdischen Beziehungen. Die wechselvolle Entwicklung der ukrainischen Sprache nutzt Hrytsak als Spiegel für gesellschaftliche Veränderungen. Sie erklären zum Beispiel, warum es nicht nur staatlicher Zwang war, der die Sprache immer wieder in Bedrängnis brachte.
Hrytsak hat der angesichts der russischen Aggression naheliegenden Versuchung widerstanden, die Selbstfindung der Ukrainer als Opfer- und Heldengeschichte zu schreiben. Er weicht unangenehmen Themen wie der Kollaboration ukrainischer Nationalisten beim Holocaust nicht aus und stellt die Brüche und Widersprüchlichkeiten in der ukrainischen Identität dar. Diese Souveränität im Umgang mit der eigenen Geschichte widerlegt eindrucksvoll das vom Kreml gezeichnete und seinen Apologeten im Westen gern reproduzierte Zerrbild von Ukraine als "Nazistaat". Wer Hrytsaks Buch gelesen hat, versteht, warum die Geschichte der Ukraine nicht nur für die Ukrainer, sondern für alle Europäer wichtig ist. REINHARD VESER
Yaroslav Hrytsak: Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation
C.H. Beck Verlag, München 2024. 480 S.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Ukraine" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.