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Besprechung vom 28.10.2020
Ein Engel für Tito
Die Gefahr der Dominanz des Naheliegendsten: Zora del Buonos Roman "Die Marschallin"
Wohl der, die solches Personal für einen Familienroman aufbieten kann! Die Großmutter der Autorin wollte Titos Partisanen Waffen zukommen lassen und wurde vom späteren Staatspräsidenten Jugoslawiens mit einem Orden geehrt. Zora Del Buono war eine kleine, offenbar willensstarke Frau: Kommunistin, Arztgattin und Familienkommandeurin, herrschsüchtig in der näheren Umgebung, freigiebig in der weiteren. "Die Marschallin" wurde sie nicht nur wegen der abgöttischen Verehrung für Tito genannt, und ihre Enkelin - die nicht als Einzige in der Familie den Vornamen der Großmutter trägt, das Adelsprädikat jedoch anders als diese klein schreibt - übernahm die Rangbezeichnung als Titel ihres siebten Buchs.
Zora die Ältere wächst im westlichen Slowenien auf und lernt nach dem Krieg einen rothaarigen Sizilianer kennen. Der Arzt Pietro Del Buono behandelt ihren Bruder, der sich beim Spiel mit der immer noch herumliegenden Munition aus den jahrelangen Isonzoschlachten verletzt hat. Nach dem Studium der Radiologie in Berlin heiratet Pietro Zora. Erst leben sie in Neapel, dann in Bari, in einer Villa mit sechsundzwanzig Zimmern, die die tatkräftige Mutter von drei Söhnen entworfen hat. Ungeachtet des großbürgerlichen Lebenswandels, den die florierende radiologische Praxis erlaubt, sind die Eheleute überzeugte Kommunisten. Mussolinis Faschisten belästigen sie nicht, obwohl Zora und Pietro keinen Hehl aus ihrer Gesinnung machen. Pietro rettet sogar Tito das Leben, sein Vater hilft als Bürgermeister auf der Verbannungsinsel Ustica dem KP-Theoretiker Antonio Gramsci, und es gibt Kontakte zu Palmiro Togliatti, dem Leiter der verbotenen KPI, sowie zu Titos Partisanen.
So reizvoll sich diese stark geraffte Zusammenfassung anhört, so mühelos individuelle, familiäre und gesellschaftspolitische Sphären ineinander verflochten scheinen - der Roman liest sich, als gälte es, nicht von einem aufregenden Leben zu erzählen, sondern von einem für alle in der Umgebung anstrengenden. Vielleicht hat sich Zora del Buono, die 1962 geborene Journalistin und Buchautorin, den Schattenseiten der Familienüberlieferung nicht ganz entziehen können.
Ihr Roman schreitet in Momentaufnahmen voran, jedem Kapitel sind Ort und Jahr in Slowenien und Italien zwischen 1919 und 1948 vorangestellt. Aus einer Alltagssituation heraus - der Gang zu einem Vortrag, die Vorbereitung eines Abendessens, eine Zugfahrt, noch einmal die Stunden vor einem Abendessen - erinnern sich jeweils einer oder eine aus der Familie, selten auch ein Bekannter. Man lässt die seit dem letzten Kapitel verflossenen ein, zwei oder auch fünf Jahre Revue passieren, bevor die Vergangenheit zur Gegenwart aufschließt, zum Vortrag, dem Abendessen, der Ankunft im Bahnhof.
Die betont alltäglichen Erzählsituationen und der dominante Erinnerungsgestus beruhigen. Zu großen Teilen ist alles Neue, auch das Erschreckendste, immer schon geschehen: "ein Jahr war das nun her". Weil aber Zora del Buono mit Ausnahme von zwei Kapiteln alle auf diese eine Weise erzählt - ob nun ein Kind geboren, eine Schwiegertochter vergrault oder ein Mensch um sein Leben fürchtet -, wird der Leser regelrecht sediert.
Die Figur der Marschallin schrumpft dabei. Zwar ist von manchen Wutanfällen und Durchtriebenheiten die Rede. Doch die in der Erinnerung geschwungene Faust, der Hieb auf den Tisch, die vergifteten Worte zum Geschenk für die Schwiegertochter werden verkleinert im Guckloch des Rückblicks. An keiner Stelle gibt Zora del Buono der Impulsivität und der Leidenschaft ihrer Vorfahrin Raum, die den Gatten und andere Männer, so sagen sie jedenfalls, begeistert.
Geradezu kraftlos wirken manche Szenen. Als Pietro Anfang der zwanziger Jahre in Berlin studiert, scheint die Aufzählung der Passanten auf der Straße einer Fernsehvorabendserie zu entstammen ("Gassenjungen, Selbstgedrehte im Mundwinkel, auf dem Weg zur nächsten kleinen Gaunerei"), mündet aber - wie ein Geständnis wider Willen - in die Erwähnung von Alfred Döblin. Und das politische Interesse der Eheleute weiß Zora del Buono nur durch die gemeinsame Zeitungslektüre morgens im Bett zu veranschaulichen, nicht durch erhitzte, bis aufs Blut geführte Diskussionen über die scharfen Kurswechsel der Komintern. Den Roman zeichnet eine lähmende Dominanz des Naheliegendsten aus.
Der zweite Romanteil überspringt zweiunddreißig Jahre: 1980 grantelt die kränkelnde Zora in einem Altersheim in Nova Gorica ihrem Tod entgegen. Sie erinnert sich an den dementen Ehemann, den sie in einem italienischen Pflegeheim zurückgelassen hat, und an die vielen Toten der Familie. Außerdem sind in den Monolog, der die eigene Verantwortung für ein Mordopfer und andere tragische Ereignisse kleinredet, noch fünf Berichte eingehängt, die trocken und in kleinerer Schrift über die Tode von Verwandten und Freunden berichten. Ob sie nicht mehr in den Monolog hineinpassten? Alle fünf sterben bei Verkehrsunfällen. Das mag verbürgt sein, passt aber in seiner Monotonie zum Gesamteindruck.
JÖRG PLATH
Zora del Buono: "Die Marschallin". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2020. 382 S., geb.
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