Besprechung vom 16.09.2021
Der Mond, ein abgelutschtes Bonbon
Stimmt das? In seinem Roman "Eine Privatsache" lässt Beppe Fenoglio einen Partisanen am Allzumenschlichen verzweifeln
Michelangelo und Beppe Fenoglio. Sie waren beide für den 19. August angekündigt. Bei Wagenbach. Die Biographie des Renaissancekünstlers im Großformat mit zahlreichen Abbildungen, der schmale Roman des Piemontesen als "elegante Klappbroschur". Das Monumentalwerk von Horst Bredekamp hat, wie der Verlag mitteilt, "25 Hilfskräfte ge- und erfordert, wurde von 8 Augenpaaren aufmerksam lektoriert, von 1 Grafikerin hingebungsvoll komponiert und von 1 Herstellerin betreut" sowie "2 x sorgfältig Korrektur gelesen". Für Fenoglios "Eine Privatsache" blieben da wohl keine Kapazitäten mehr. Anführungszeichen wurden willkürlich verteilt, gleich zum Anfang schon mal eines, obwohl der Roman keinesfalls mit direkter Rede beginnt. Für die Textgestaltung ist eine besondere Generosität festzuhalten. Warum nicht mal einen Absatz hinter einem Apostroph? Oder in der direkten Rede unmittelbar nach der Unterbrechung durch eine Abführung? Dann lässt sich hübsch rätseln, wer im Dialog eigentlich spricht. Und warum im Klappentext nicht auf das Sterbejahr Fenoglios, 1963, verzichten und für das Geburtsjahr 1992 statt 1922 nennen?
Fenoglios literarisches Schicksal scheint unter keinem guten Stern zu stehen. Auch in Italien war der Start schwierig. Unmittelbar nach dem Kriegsende war dort eher Aufbauliteratur gefragt, die durchaus einen realsozialistischen Anstrich haben durfte. Der Neorealismo blühte. Einer ihrer wichtigsten literarischen Vertreter, Elio Vittorini, förderte zwar den Erzähler, nicht aber den Romancier Fenoglio. Erst Italo Calvino, der den Übergang zu einem allegorischeren Erzählen markiert, erkannte die Bedeutung Fenoglios, dessen Werke dann größtenteils nach seinem frühen Tod erschienen. Sie kreisen um die Partisanenbewegung und um das Leben in den Langhe. Literarisch bleibt Fenoglio damit durchweg in Norditalien, denn auch die Partisanen waren ein Phänomen des Nordens. Als eine seiner wichtigsten Erzählungen ist "Die dreiundzwanzig Tage von Alba" zu nennen, seine zweite große Figur neben Milton aus der "Privatsache" ist "Johnny der Partisan" aus dem gleichnamigen Roman. Bis heute wird Fenoglio in Italien regelmäßig aufgelegt.
Calvino und ihn verbindet mehr als die Literatur. Beide sind fast gleichaltrig und haben sich den Partisanen angeschlossen. Calvino verarbeitet diese Erfahrung in "Wo Spinnen ihre Nester bauen". Er gesteht später ohne jeden Neid, dass Fenoglio mit der "Privatsache" den Schlüsselroman zu dieser Zeit geschrieben habe. Warum?
Figuren und Handlung sind durchaus überschaubar: Im letzten Kriegsjahr kommt der italienische Partisan mit dem Kampfnamen Milton bei einem Patrouillengang an der Villa seiner großen Liebe Fulvia vorbei. Dort trifft er die alte Haushälterin. Diese verrät ihm, dass sein Freund Giorgio immer wieder lange Liebesbegegnungen mit Fulvia hatte. Danach wird der Krieg für Milton zur "Privatsache", denn für ihn gibt es nur noch eine Frage: Stimmt das? Als er Giorgio zur Rede stellen will, muss er erfahren, dass Faschisten ihn gefangen genommen haben. Daraufhin sucht Milton nach einem faschistischen Gefangenen, den er zum Austausch anbieten kann. In diese Suche steigert er sich derart fieberhaft hinein, dass mit ihrem Scheitern auch der Roman in einem quasi surrealistischen Ende ausläuft.
Dies deutet bereits auf eine wesentliche Besonderheit des Romans. Die Bildsprache ist fast expressionistisch, der Neorealismo überwunden. Entscheidender aber noch ist die Abkehr auf inhaltlicher Ebene. Die Resistenza bei Fenoglio ist keine homogene Gegenkraft zum Faschismus, sondern ein fragiles Sammelbecken. Hier kommen Kommunisten und Badoglio-Leute, Arbeiter und Intellektuelle zusammen. "Aber er ist Student, und die Studenten sind alle ein bisschen übergeschnappt. Da haben wir einfachen Leute unsere fünf Sinne doch besser beisammen." Politische Meinungsverschiedenheiten nimmt Fenoglio ebenso auf wie Neid auf die bessere Ausstattung einer anderen Gruppe, Misstrauen und Existenzängste. Grundgefühle, wie sie auch die Faschisten kennen. Diese Geschichte war in der Tat noch nicht erzählt worden, und Fenoglio gelangt so zur Anamnese einer Gesellschaft nicht nur in Extremsituationen.
Der Name des Protagonisten dürfte bei dessen Liebe für englische Poesie wohl auf John Milton anspielen. Sein Paradies ist längst verloren. Er habe in der kurzen Partisanenzeit einen "langen Weg zurückgelegt", gesteht er der Haushälterin. Diese Atmosphäre von Langsamkeit, Bedrückung und Orientierungslosigkeit fängt Fenoglio glänzend ein. Der piemontesische Schauplatz kommt ihm dabei entgegen. "Es war genau neun Uhr morgens. Der Himmel war über und über mit Schäfchenwolken bedeckt, darunter hingen ein paar eisengraue Wolljäckchen, und in einem von ihnen steckte der Mond, durchsichtig wie ein abgelutschtes Bonbon." Durch dieses fahle Licht taumelt Milton auf der Suche nach der Antwort auf die eine drängende Frage, denn er "konnte nicht länger leben, ohne diese Gewissheit, vor allem konnte er ohne diese Gewissheit nicht sterben, in einer Zeit, wo junge Leute wie er eher zum Sterben als zum Leben berufen waren."
Er kann sich nicht sagen, die "Dinge von früher sind für nachher, für nach dem Krieg!" Mit Milton hat Fenoglio eine Figur geschaffen, die den Krieg in dem Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft belässt und ihn - gerade in seiner Sinnlosigkeit - als Bestandteil menschlicher Existenz sieht. Dafür findet er Bilder voller Nebel, Kälte und Regen. Denn nur ein Herumirren in unwirtlicher Landschaft lässt eine Privatsache zu einer existenziellen werden. CHRISTIANE PÖHLMANN.
Beppe Fenoglio: "Eine Privatsache". Roman. Aus dem Italienischen von Heinz Riedt. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 192 S., geb.
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