Besprechung vom 15.09.2021
Die Sklaverei des Narkokapitalismus
Willkommen in der mexikanischen Dorfhölle: Fernanda Melchors Intimpanorama der Einsamkeiten und giftigen Begierden
Das Paradies an sich ist schon nicht auszuhalten. Doch im Garten des Paradieses den Rasen mähen zu müssen ist die Hölle auf Erden. Mit dieser Einsicht ist der sechzehnjährige Polo konfrontiert, Hilfsgärtner des Paradieses. Dieses ist natürlich im Idiom des gelobten Landes im Norden auszusprechen: Paradais. So lautet gemäß Polos brüchig alphabetisiertem Hörverständnis der Name einer gated community irgendwo am Golf von Mexiko. Hier hat der Geldadel von Veracruz sich verbunkert. Mit dem Flammenschwert werden all die aus ihm vertrieben, die mit der eigentlichen Erbsünde befleckt sind: über kein Erbe zu verfügen.
Besitzlose, Hungerleider und Versager, so wie Polo, sind allenfalls als Dienstleister geduldet. Als "Personal", wie sein ausbeuterischer Chef, Verwalter Urquiza, es nennt, während er sich diskret die Trinkgelder seiner Untergebenen in die eigene Tasche steckt. Für Polo kommt das ohnehin auf dasselbe hinaus: Sein Gehalt wird von der prügelfreudigen Mutter einkassiert. Durch Beziehungen zur Paradiesverwaltung hat sie ihn ja in diesen Arbeitsplatz gezwungen, damit er, Schulabbrecher und Nichtsnutz, irgendetwas zum Unterhalt der Familie beiträgt. Zumal Zuwachs vor der Tür steht. Seine Cousine hat sich hochschwanger in den Haushalt eingenistet. Und was Polo bang fürchtet, was die Mutter nicht ahnt: um womöglich Polos eigenes Kind auf die Welt zu bringen. Dem Horror dieser ärmlichen Dorfhölle nur einen Steinwurf jenseits von Eden sucht Polo nach Dienstschluss zu entkommen. Statt nach Hause zu fahren, besäuft er sich mit Franco Andrade, dem verwahrlosten gleichaltrigen Spross einer der Paradiesbesitzer-Familien. Auch Franco klammert sich an den allabendlichen Absturz. Playstation und Pornovideos im Netz bilden sonst die einzige Alternative in Einsamkeit und endlosen Öden des Edens.
Ein solches Paradais könnte das sozialrealistische und metaphernschwere Schwarz-Weiß-Gemälde von Ausbeutern und Ausgebeuteten in einem sozial engagierten Drama ergeben. Könnte sich die Fortsetzung von Buñuels jugendlichen Vergessenen in der neoliberalen Gegenwart auf die Fahnen schreiben. Die literarische Geglücktheit, aber zugleich das Unheimliche des Romans von Fernanda Melchor besteht darin, sich diesen Mechanismen engagierter Wohlgemeintheit zu widersetzen. Den stereotypen Manichäismus von Tätern und Opfern, von gierigem Eigennutz und Not der sozialen Umstände unterwandert die Autorin von der ersten Seite an. Denn das giftige Paradies, das von den Fluten des von Industrie- und Düngerückständen verseuchten Río Jamapa durchströmt wird, ist auch für diejenigen eine Hölle, die es als Herrscher bewohnen. Die Täter sind selbst Opfer und treiben gerade so die Opfer zur Täterschaft.
Erlebbar wird dies exemplarisch am pubertierenden Franco: Pickelig, fettleibig, fistelstimmig, ein von Pornoseiten besessener Jungalkoholiker, ist "der Dicke", "El Gordo", wie Polo ihn stets nur abschätzig nennt, alles andere als der Gewinner des Systems, zu dem ihn seine Herkunft als Sohn eines Staranwalts eigentlich prädestiniert. Noch dazu wird Franco verzehrt von einer frenetischen Begierde nach der mittelalten Mutter der Nachbarskinder. Gehemmt und verklemmt, schüttelt er sich sein verzweifeltes Sehnen in stundenlangen Masturbationsstafetten vom Leib und nutzt die Treffen mit Polo als Übungen in gymnastischer Verbalerotik.
Doch die Fantasie drängt nach Inkarnation, den Worten sollen Taten folgen. Und dafür braucht er einen Komplizen. Voll Verachtung für seinen jämmerlichen Gleichaltrigen - mehr denn voll Ressentiment gegen den Klassenfeind - und zugleich begierig nach Kriegsbeute lässt sich Polo locken. Schließlich wäre sein wahrer Traum, sich ganz freiwillig der Narko-Gruppe anzuschließen, die seinen Cousin Milton nur unter Folter zum Beitritt gezwungen hat. Er hat nichts zu verlieren. Und auch kein Gefühl der Reue, kein Gefühl der Verantwortung. "Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen", lautet der erste Satz des Buches und das rekurrente Credo.
Wie schon in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman "Saison der Wirbelstürme" ist Fernanda Melchor in ihren messerscharfen Szenen aus dem Leben in der Provinz, wie Balzac es genannt hätte, in jedem Moment eindrücklich, präzise und zugleich hoffnungslos. In einer klaustrophoben Welt, deren einzige Wahlmöglichkeit zwischen der Freiheitsberaubung durch entfremdete Arbeit, durch Drogenkartelle oder aber durch die privaten Kerker der Familienmachtstrukturen besteht, bleibt keinerlei Option auf selbstbestimmtes Handeln. Im Narkokapitalismus ist die moderne Sklaverei zur Wirklichkeit geworden und Hölderlins Vers "Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen" ihre schulterzuckende Staatsdoktrin. Anders als in dem breiter angelegten Panorama ihres vielfach preisgekrönten vorigen Romans entwirft Fernanda Melchor allerdings kein figurenreiches Provinzinferno. Fast kammerspiel- oder auch novellenhaft macht sie ihren zwei Hauptfiguren innerhalb der Zäune Edens eine Intimhölle heiß. Das nimmt dem Erzählten einerseits etwas Farbe, lädt es aber mit minimalistischer Intensität auf.
Gezielt polt Melchor dabei insbesondere die angestammten Muster der Schilderung von Sexualität, Gewalt und sexualisierter Gewalt um. Francos Fantasien oder Polos frenetische Kopulationen wider Willen bewegen sich in einem sprachlichen Register, das lang unter dem Schlagwort "Schmutziger Realismus" von Charles Bukowski bis Pedro Juan Gutiérrez ein unhinterfragtes Monopol männlichen Schreibens war. Meist als Glorifizierung einer vitalen männlichen Sexualität. Bei Fernanda Melchor bringt ebendieses männliche Begehren seine vergiftende Tödlichkeit ans Licht.
Dabei stellt sie nicht selten die Vorläufer auch an expliziter - und von Angelica Ammar höchst glaubwürdig ins Deutsche übertragener - Drastik der Darstellung noch in den Schatten. Vom Vitalismus der dirty old men bleibt nur die Ruinenlandschaft einer zutiefst fragmentierten männlichen Sexualität, die das tägliche Gewalterlebnis spiegelhaft reproduziert. Wenn Klaus Theweleits Männerfantasien eine künstlerische Ausgestaltung im 21. Jahrhundert suchten, fänden sie in Fernanda Melchors Prosa ihre gleichermaßen meisterliche wie hypnotisch abstoßende Transposition. FLORIAN BORCHMEYER
Fernanda Melchor: "Paradais". Roman.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 144 S., br.
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