Mia Gatow ist NÜCHTERN. NÜCHTERN kommt ihrem Gefühl näher als Trockene Alkoholikerin. Meinem Gefühl kommt MUTIG am nächsten.
In einer Familie aufgewachsen zu sein, in der viel Alkohol getrunken wurde, mag den Grundstein für ihren ungezwungenen Alkohol-Konsum gelegt haben. Auch mögen die Wunden einer unsicheren Kindheit oder die Großstadt die Sache erleichtert haben, doch Mia Gatow gelangt zu der Erkenntnis, dass weder Berlin, die Familie noch Kindheitstraumata schuld sind. Die einzige eindeutige Ursache für eine Alkoholabhängigkeit ist das Abhängigkeitspotenzial von Alkohol. S.69
Mia Gatows Leben liest sich zunächst wie eine Staffel Sex & the City . Mias Leben in DER Partymetropole Berlin der 90er Jahre fühlt sich oberflächlich wie das von Carrie Bredshaw an. Zwischen Rausch und Drama, Freiheit und Abhängigkeit, jenseits des Einerleis eines 9-to-5 Jobs und einer Langzeitbeziehung suchtete ich mit einer Mischung aus prickelnder Faszination und einem Hauch Sehnsucht durch die Seiten. Doch anders als Carrie lässt Mia die Hosen im wahrsten Sinne des Wortes runter: weiß manchmal nicht, wie der Typ neben ihr im Bett heißt. Nachtleben und Alkoholexzesse hinterlassen ihre Spuren. Enthemmtes Selbstvertrauen, enthemmter Sex, das Leben ein ständiger Rausch: ihr dämmert, dass es nicht ewig so weitergehen kann.
Das Denken kreist nur noch ums Trinken und Nichttrinken, um Trinkregeln und deren Brechen. Ermüdung stellt sich ein. Zu viele unter Alkoholeinfluss produzierte Dramen, zu oft Verzweiflung, Trauer, Depression, viel zu viele verkaterte Tage. Schluss.
Aber WIE sie das erzählt! Ihre Stimme ist mitreißend, frech, spritzig, verzweifelt, schonungslos und mit einer selbstironischen bis zynischen Abgeklärtheit. In dieser Mischung drückt sich der Schmerz, das Auf und Ab dieser fatalen Beziehung zum Leben aus. Ich kann mich auch wenn ich der Generation der Millennials nicht mehr angehöre sehr gut in Mia einfühlen, mich oft sogar mit ihr identifizieren.
Ein ganz überraschendes Buch, das mich unterhalten, aber vor allem bewegt und aufgewühlt hat. Ich finde, wir als Gesellschaft haben ein scheinheiliges Verhältnis zu Alkohol und das drückt sich auch in dieser Geschichte aus. Mia Gatow sagt, dass der Blackout, die bewusstseinslose Teilnahme am Leben sozial akzeptierter ist als öffentliches Stricken. Ja, dabei ist sich die Gesellschaft der Macht dieser Droge durchaus bewusst, doch die meisten glauben, sie kontrollieren zu können. Alkohol ist gefährlich und wird doch verharmlost und mit großer Selbstverständlichkeit konsumiert, gefeiert und beworben. Von alkoholkranken Menschen wenden wir uns dann aber lieber ab und sagen: selbst schuld.
Und darum möchte ich es mit Daniel Schreiber halten, der dieses Buch mit einem sehr treffenden Blurb geadelt hat. Ich habe sein Essay Nüchtern direkt im Anschluss gelesen. Es war für mich die Theorie zu Mia Gatows Praxis. Daniel Schreiber sagt, er möchte ihr Buch allen Leuten schenken, die ich kenne. ICH AUCH