»Bruno Latour riet mir: Es ist wichtig, Nikolaj Schultz zu lesen. Er hatte recht. « Hans Ulrich Obrist
Hitzewelle in Paris. Nachts liegen die Menschen schlaflos in verschwitzten T-Shirts unter ihren Zinkdächern. Soll man nicht besser die Klimaanlage anschalten? Oder macht das alles noch schlimmer? Und was ist eigentlich mit dem billigen T-Shirt, das über Tausende Kilometer nach Europa geschafft wurde? Der Autor bekommt Panik, will den Temperaturen und seinem schlechten Gewissen entfliehen. Er macht sich auf nach Porquerolles. Doch auch die Insel ist nicht länger unberührt, sondern ein überlaufenes Touristenziel. Im Sommer ist das Wasser knapp. Die ikonische Plage d'Argent wird von den Einheimischen nur noch »Bakterienstrand« genannt - wie in einem Prozess der umgekehrten Alchemie wird aus Schönheit Schmutz, aus Silber Dreck.
Nikolaj Schultz' Erlebnisse und Begegnungen werfen existenzielle Fragen auf: nach der Verantwortung jeder und jedes Einzelnen, nach ethischer und ökologischer Orientierung im Anthropozän. Seine Antworten sind nicht immer tröstend, aber er findet Einsichten und einen Ton, der ihn zur Stimme einer Generation machen könnte.
Besprechung vom 03.04.2024
Es schwankt der Boden
Nikolaj Schultz leidet an der Verstrickung in den Klimawandel
Auf die Rückseite von Büchern gedruckte Zitate loben diese oder ihre Autoren üblicherweise über den grünen Klee. Das stimmt auch für fast alle, die auf dem Umschlag von Nikolaj Schultz' Bändchen "Landkrank" zu finden sind. Doch eines sticht durch Nüchternheit hervor. "Spätere Diagnostiker", so lautet die Zitatspende Peter Sloterdijks, "werden den Autor einen Geopathen nennen." Das gewählte Etikett ist überaus treffend. Nikolaj Schultz' Buch - Soziologe, Jahrgang 1990 und durch ein gemeinsam mit dem späten Bruno Latour geschriebenes "Memorandum" (F.A.Z. vom 29. Oktober 2022) einem breiteren Publikum bekannt geworden - handelt von unentrinnbaren Wirkungen individueller Lebensführung: kaum eine Entscheidung alltäglicher, mit genutzten Produkten oder Dienstleistungen zusammenhängender Art, die nicht letztlich auch zu fatalen Effekten beiträgt - für Klima, Böden, Lebewesen, Biodiversität, Gesellschaftsentwicklungen.
Von diesen Wirkungen, von denen er nun einmal weiß, nicht absehen zu können und seinen ökologischen "Fußabdruck" als beständigen Albtraum zu erleben, davon nicht zuletzt erzählt Schultz. Die dabei fälligen Hinweise auf die Verflochtenheit selbst einer bescheidenen westlichen Lebensführung in lokale wie globale Effekte bedrohlicher Art mögen für sich genommen wenig hermachen. Aber auf ihre entschieden persönliche, das eigene Befinden ins Spiel bringende Einbettung kommt es hier an, durch einen Autor, der überall "die verstörenden Spuren meines Seins und Tuns" erkennt und selbst dem Gedanken nicht zu widerstehen vermag, dass ihn jede Seite, ja jedes Wort seines Essays - durch das aufgewendete Papier, die von weither geholte Druckerschwärze . . . - tiefer in die Verstrickung als Mitakteur der planetarischen Notlage treibt. Symptome eben des "Mal de terre", wie der französische Originaltitel lautet, was eigentlich die körperliche Unsicherheit meint, die befällt, wer nach einiger Zeit auf einem von Wind und Wellen bewegten Boot zurück auf festen Boden kommt.
Auf ein Boot flüchtet sich der Erzähler tatsächlich, nachdem er den Leser eingangs am Leiden an einer tropischen Pariser Sommernacht teilnehmen ließ. Da geht es nicht nur um die Hitze der Hundstage - "Das Anthropozän ist offenbar kein guter Ort zum Schlafen" -, sondern um eine körperliches Empfinden gewordene Verstörung angesichts all der Probleme, die er nicht loswird. Wo doch selbst der Kaffee, den er morgens braucht, "für eine Verschlechterung der Böden und für Wasserknappheit" sorgt und das Duschen CO2 in die Atmosphäre bläst.
Also erst einmal weg aus Paris und auf die kleine Insel Porquerolles vor der französischen Mittelmeerküste, wo Bekannte ein hübsches Boot unterhalten. Wobei den Problemen freilich so nicht zu entkommen ist, denn sie haben sich, das will damit bedeutet sein, überall eingestellt, nunmehr unter den Bedingungen einer Insel, die Naturschutzgebiet und touristischer Anziehungspunkt ist. Der Erzähler sieht aufs Meer, und er weiß, dass unter seiner Oberfläche die Zerstörungen fortschreiten und die Küsten erodieren. Der Aufenthalt gibt ihm Gelegenheit, auf diese Entwicklungen einzugehen, schon bestehende Konflikte zu benennen, deren Verschärfung in den nächsten Jahrzehnten unabwendbar scheint.
Auch der Yachttourismus vor der Mittelmeerküste hat daran seinen Anteil, samt den Superyachten, die in den Sommermonaten dort zahlreich unterwegs sind. Man kann diese maritimen Luxusmobilien auch als Boot gewordene Wunschvorstellung ansehen, sich von allen terrestrischen Verbindungen zu befreien, so wie schon Inseln etwas von solcher Autarkie versprechen. Für Schultz ist das Anknüpfungspunkt, einem Begriff von Freiheit als Abstreifen möglichst vieler Abhängigkeiten einen anderen Begriff entgegenzusetzen, der sich in der "Nutzung und Pflege von Verbindungen und Beziehungen zu allen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen" erfüllt.
Womit sich auf triftige Weise zeigt, wie didaktisch umsichtig der Ausflug auf Boot und Insel gewählt war. Ob der Autor der "Nachwuchsstar der Soziologie" ist, wie ein anderes Zitat auf der Umschlagrückseite behauptet, darüber lässt dieses Bändchen keinen Schluss zu. Oder doch nur dann, wenn das weniger auf Inhalte zielte als auf eine Weise der erzählenden, im Erleben verankerten Darstellung. Die aufwendige Rahmung mit Vor- und Nachwort ist vielleicht als Beleg für die Attraktivität dieses "geopathischen" Genres anzusehen. HELMUT MAYER
Nikolaj Schultz: "Landkrank". Ein Essay.
Vorwort v. Luisa Neubauer, Nachwort v. Dipesh Chakrabarty. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
122 S., br.
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