Besprechung vom 06.03.2024
Ein ganzer Hof voller Frisöre
Von gewalttätigen Phiolen und anderen Zärtlichkeiten: Odile Kennels translingualer Gedichtband "Irgendetwas dazwischen" entdeckt im "Ü" den erotischen Buchstaben
So ein Gedicht kann alles. Es hat einen Körper (sexbereit). Es hat eine Seele (hautsensibel, oft nackt). Eine Sprache hat es sowieso. Auch wenn die nie stimmt und das Ich, das um sie buhlt, immer nach "den richtigen Worten" sucht, "die es nicht gibt". Diese Sprache kommt selten allein, meist oszilliert sie mit und zwischen anderen Sprachen. Und dabei liegen, noch vor den Bedeutungen, in ihren Vokalen verborgen, psychische Valenzen. So "addiert" ein gestrandetes Matrosinnen-Ich auf dem Weg ins Innere der Insel "Wimpel, Brise, Kies" und fragt sich: "was ist der dominante Laut / in Traurigkeit"? Ist es "das i vom unvermischtem / Morgenlicht, oder das von diesig / schlierig"? Jedenfalls wirft die Matrosen-Poetin den I-Vokal "wie Krill den schrillen/ Möwen hinterher, die in dieser / Zeile still sind". Und das "sture Schiff, die Sprache, sticht in See/ kreuzt als letztes / draußen bei den Riffen / ist Kimmung, Kimme, Kimm". Kimmung, Kimme, Kimm umspielen Horizont, Luftspiegelung, Zieleinkerbung bei einer Schusswaffe, die Afterspalte eines Menschen, die Grenze von Schiffsboden und -wand, die Linie zwischen Wasser und Luft. Und sie schlagen mit ihrem "i" das Lautspiel der Traurigkeit an.
Ein anderes Gedicht intoniert das "Ü als erotischen Buchstaben" und endet: "bin Bündel, süßes Früchtchen, Hülse, Küste / verkünde üppige Sünde, du aber stürme, überschütte / mich mit Lügen, küss mich / in Stücke".
Aus einer Zeile "mon corps, ce petit animal violent" tropfen, Metamorphosen, eine Farbe, ein Veilchen und mit ihm eine Bratsche, ein Gefäß, das klingt und zerbricht: "violent // violett / Viole / Phiole / pling / klirr". Und manchmal beginnt alles mit einem surrealen Einfall: "immer träume ich von blauen / Kletterschuhen und einem Hof / voller Frisöre".
Dass sie keinen Mut habe, wird man der Autorin nicht vorwerfen können. Wenn die Sprache ein "stures Schiff" ist, ist ihre Matrosin doch mit Wind und Wettern auf verschiedenen Meeren vertraut und seelentüchtig. Odile Kennel (Jahrgang 1967), geboren im badischen Bühl, hat französische Wurzeln. Sie schreibt translingual, übersetzt aus dem Französischen, Portugiesischen, Spanischen, Englischen. Und diese Sprachen laufen wie Unterströmungen in ihren Gedichten mit. Manchmal sprudeln sie hervor und lassen das Schiff kreativ schlingern. Um es nur so auf seinen Kurs zu bringen. Der Schlusstext "Gedicht, in dem die Dichterin sich im Schwimmbad befindet, weit weg oder im Bett und denkt" beginnt: "Um dich zu vergessen, treibe ich / Sport". "Treibe ich" wäre ein Davontreiben, ein Sich-treiben-Lassen, das im Zeilenbruch sich zum Gegenteil strafft: Sporttreiben.
Es gibt in Kennels neuem Gedichtband "Irgendetwas dazwischen" ein Pendant zu diesem Text auf Französisch, in dem die Ambiguität des deutschen "treiben" nicht funktioniert, dafür klappt etwas anderes: "pour t'oublier, je fais du sport / je sors / je dors. / Qui dit dors ne dit pas dor. / Ne dit pas door." Klänge stoßen Bilder an, noch über die Sprachgrenzen hinweg, diffundieren. Wer Schlaf sagt, sagt nicht, auch wenn es so klingt, Gold (d'or). Sagt nicht Tür. Wo sind wir jetzt? "Qui dort rêve". In der Wirklichkeit eines Sprachtraums, in dem alles auch etwas anderes sein kann! Denn die Anmerkungen erläutern, dass "dor", das wir als französisches "golden", "Gold" gelesen haben, auf Portugiesisch "Schmerz" bedeutet. Und "quero o teu pau" heißt: "Ich will deinen Schwanz". Das Wort für Schwanz, "pau", hört sich fast gleich an wie das Wort für Brot, "pão". Französisch ausgesprochen klingt es aber wie das Wort dieser Sprache für Haut, "peau". Das Ich ruft nach Schwanz und Brot und nährt sich von der Sinnlichkeit der Echos: "quero: teu pau. / dein Brot / ton pain / my pain / treibs nur / mit mir / à la dérive / rivéraine / rivée / sans peau / ni pau". Die Matrosin treibt (à la dérive), flusswärts (rivéraine), genagelt (rivée) Poesie.
Auch wenn Odile Kennel vom Wortmaterial her schreibt, von den Klängen, gibt es zunächst einen Realitätsimpuls. Das kann eine Abendstimmung in Berlin sein, eine Zeile aus einem Gedicht von Rolf-Dieter Brinkmann, die Erinnerung an Scham oder eine Zahnbürste. Und dann entzünden sich am Sound Sinnpartikel und neuer Sound, und die Sprache driftet auf Unbekanntes zu, ins unverhofft Offene. Anja Nolte hat die heftigen und zarten, schamlosen und scheuen, witzigen und verzweifelten Gedichtaufschwünge zwischen Liebe (zur Frau, zum Jüngling, zum Gedicht) und Verlorensein illustriert. In getuschten Schwarzweißzeichnungen verbindet sie fragmentierte Momente von Tieren (Skelette, Zähne, polypenhafte Greifarme, auch Insektenaugen) mit Pflanzlichem (Blatt, geöffnete Frucht - oder doch Vagina?), technischen Details und Körperausschnitten. Roboterhafte Wesen bekommen Weichteile, Hintern, Schlünde, Phalli. Sie explodieren jenseits eines organischen Zusammenhangs oder maschinellen Funktionierens. Sind da, sind neu, rauchen, bluten, schleimen, keimen. Fletschen Zähne, strecken die Zunge in Schambehaarung oder nur aus einem Smiley-Gesicht heraus.
Sie sind Erscheinungen des "Dazwischen", und sie stehen zwischen den Gedichten, die man vor ihnen manchmal fast in Schutz nehmen möchte. Was natürlich einem Missverständnis gleichkommt. ANGELIKA OVERATH
Odile Kennel: "Irgendetwas dazwischen".
Gedichte mit Illustrationen von Anja Nolte.
Verlagshaus Berlin, Berlin 2023. 194 S., br.
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