Dieses sehr dünne Büchlein zum Thema Armut ist aus dem Social-Media-Kanal Twitter heraus entstanden. Dort postete erstmalig unter dem Hashtag#IchBinArmutsbetroffendie deutsche Alleinerzieherin Anni W. als@Finkulasaüber ihr Leben am Rande der Gesellschaft, den Stress, den Armut bedeutet und die Scham, die Armutsbetroffene haben. Sehr schnell schloss sich auch die Österreicherin@danibrodesser aka Frau Sonnenschein dieser Initiative an, beschrieb in unzähligen täglichen Tweets ihren Weg in die Armutsfalle und wie sie die Situation täglich zu meistern versuchte. Letztendlich ist aus dieser Erzählung eine Erfolgsgeschichte in Form dieses Buchs entstanden, das unsere Protagonistin, wie sie selbst sagt, auch wieder aus der prekären Situation herausgeholt hat.Sehr persönlich und detailliert schildert Daniela Brodesser, wie sie in die Situation gelangte, so arm zu sein, dass sie nicht einmal mehr wusste, wie sie ihre Familie ernähren sollte. Bei dieser speziellen Biografie fällt zuerst einmal auf, es kann wirklich jeden treffen, denn Brodessers Familie ist nicht dieses typische Beispiel von "Sozialschmarotzern", die uns die Rechte immer verkauft und die angeblich selbstverschuldet, mangels Arbeitswillens ins Prekariat schlittern.Der Weg ganz nach unten begann folgendermaßen: Brodesser mit guter Ausbildung aus einem Beamtenhaushalt hat sich nach ihren älteren Kindern, deren Betreuung sie neben dem Beruf locker gewuppt hat, bewusst für ein behindertes Kind entschieden, dessen Versorgung viele hohe Kosten verursachte, die nicht vom Sozialsystem getragen wurden und auch viel Pflegeaufwand von der Mutter erforderte. Als dann nach Jahren ihr Mann durch einen Burnout arbeitsunfähig wurde, implodierte das finanzielle Netz, das die Familie bisher immer aufrechterhalten konnte, vollends.Hier haben natürlich mehrere Stellen versagt, sodass er durch das Netz gefallen ist, die Firma, die ihn nach zehnjähriger Firmenzugehörigkeit bei ersten Krankheitssymptomen rausschmiss, der Arzt und Gutachter, der den Burnout nicht anerkannte, Brodessers Mann, der in der Notsituation aus Verzweiflung und Unwissenheit einen prekären freien Dienstnehmervertrag ohne Sozialleistungen annahm und sich dann natürlich bezüglich seiner Burnout Diagnose, so nachhaltig ruinierte, dass er gar nicht mehr arbeitsfähig war. Keine Sozialhilfe, weil freier Dienstnehmer, sehr viele falsche Informationen von den zuständigen Stellen und schlechte Beratung. Familie Brodesser dürfte da kein Einzelfall sein. Vor allem Menschen, die nie in einer Notsituation waren, und sich infolge dessen einfach überfordert fühlen, werden ganz bewusst von Leistungen ausgeschlossen, die ihnen eigentlich zustehen würden. Hier werden nicht die gewieften Systemausnutzer, die sich ohnehin auskennen, sondern Leute in vorübergehenden Notsituationen, die noch nie etwas mit dem Sozialsystem zu tun hatten, von den Behörden im Regen stehen gelassenSehr gut beschreibt Dani Brodesser nach dem Abrutschen in die Armut - die bei ihr in Folge von Verleugnung erst nach 18 Monaten wahrgenommen wurde - dann die Talsohle, aus der alle nicht mehr herauskamen. Nachdem Brodesser versuchte, jeden einzelnen Putzjob und andere prekäre Arbeiten neben der Pflege ihrer Tochter anzunehmen, werden die Situationen des Alltags sehr anschaulich beschrieben: vor jeder größeren Rechnung und Reparatur Angst haben zu müssen, die Scham, der Verlust von Sozialkontakten, weil man nicht offensiv mit der Armut umgehen kann, sich Aktivitäten der Freunde nicht leisten kann, sie mit dem Gejammer nicht behelligen will und dann einfach mit einer Ausrede absagt. Am schlimmsten traf es das Kind, das in der Schule und bei den Freunden nach und nach isoliert wurde, weil es aus finanziellen Gründen nicht mitmachen konnte.Auch die respektlosen Ratschläge in solchen Situationen werden sehr gut thematisiert. Als Brodesser dann anfing, auf Twitter offen über ihre Situation zu reden, war das wie ein Befreiungsschlag, sie beschreibt auch sehr ausführlich den Hass, das Unverständnis und die Verachtung, aber insbesondere den Zuspruch, die Bestätigung und die Hilfe, die ihr auf Twitter zuteilwurde. Plötzlich wusste sie, ich bin nicht alleine und konnte sich mit Leidensgenossen vernetzen und sich über ihre Probleme offen austauschen. Letztendlich lieferte ihr diese Notsituation die Grundlage für einen neuen Job: nämlich über Armut zu reden und darüber zu schreiben.All das ist sehr gut persönlich geschildert und als Vortrag finde ich das Thema ausreichend abgehandelt, da können Betroffene Brodesser ja dann in der Pause oder anschließend persönlich kontaktieren. In Buchform bin ich aber sehr enttäuscht, denn konkrete Hilfestellungen für andere Armutsbetroffene in derselben Situation werden gar nicht strukturiert thematisiert. Da beklagt Brodesser sich in ihrer ganzen Biographie, dass ihr keine professionelle Hilfe zuteilwurde. Ist aber egal, denn der nächste Pechvogel muss erneut selber schauen, wo er bleibt.Sorry, aber da helfen auch nicht ein paar dahingeschlenzte Links zu Beratungsstellen im recht dürftigen Anhang, die sich übrigens auch noch mitten zwischen den statistischen Quellennachweisen und Zeitungsquellen in denen Schlagzeilen zitiert werden, verstecken und mit der Lupe gesucht werden müssen. Da braucht es sinnvollerweise ein eigenes Kapitel, in dem durch die eigenen Erfahrungen mit zusätzlicher Recherche und unterstützt von Fachleuten strukturiert angegangen werden muss, wie man die Ausganssituation analysiert, welche Behörden und Hilfeinstitutionen, Fonds, caritative Einrichtungen mit Links strukturiert dargestellt nach den einzelnen Bundesländern zuständig sind und kontaktiert werden können. Wenn dieses Buch Armut heißt und man so eine Chance hat, sollte man sich die Mühe für die Leidensgenossen auf jeden Fall machen. Meine Kritik geht übrigens sowohl an die Autorin als auch an den Verlag, der sie beim Blick über den eigenen Tellerrand nicht ausreichend forciert und unterstützt hat.So kommen wir zum Fazit:Sonst ist dieses Werk nämlich nur ein Gejammer über die eigene Armut, das niemandem nützt und keine konstruktiven Wege aufzeigt, wie man aus derFalle rauskommt. Schade um diese vertane Chance!