Lucia, die Erzählerin dieser Geschichte, lebt in einem abgeschiedenen Dorf in den Bergen von Abruzzen. Sie ist Mutter der 20jährigen Amanda, einzige Tochter eines störrischen, alten Mannes, getrennt von Dario, ihrer Jugendliebe, der im entfernten Turin eine Bankkarriere verwirklichen will, und im Dorfleben mit ihrer Physiopraxis gut integriert.Als Amanda ohne Ankündigung vom Unistudium von Mailand zurückkehrt, merkt Lucia sofort, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt. Besorgt nimmt Lucia Amandas Schweigen wahr und erinnert sich an jene Nacht vor dreißig Jahren, in der nur ein Zufall sie vor schlimmeren bewahrte.Auf dem Familiengrundstück "Dente del lupo" befand sich damals ein Campingplatz. Drei junge Mädchen brachen zu einer Bergwanderung auf, von der nur eine schwer verletzt zurückkehrte.Ein Glück, dass du an diesem Tag nicht mitgekommen bist.Meine persönlichen Leseeindrücke 233 Seiten lang ist der neue Roman von Donatella Di Pietrantonio, mit dem sie dieses Jahr (Anm. 2024) den prestigereichen Literaturpreis "Premio Strega" gewonnen hat. Der Abstand zum 2. und 3. Platzierten ist beachtlich, und nach Arminuta (Premio Campiello 2017) und Borgo Sud bin ich sehr auf diesen Roman gespannt.Es gibt Bücher, und den Roman "Die zerbrechliche Zeit" zähle ich dazu, die erst am Ende die ungeheuerliche Wucht preisgeben, die den Zeilen innewohnt. Denn der Roman beginnt unaufgeregt, in einem sehnsuchtsgeladenen, melancholischen Erzählstil, der der italienischen Literatur oft anhaftet. Ich warte also auf die Wendung, den großen Clou, der dieses Buch zum Gewinnerbuch des Premio Stregas gemacht hat. Diese Wendung, zwischen den Zeilen angekündigt, bestimmt einen der beiden Handlungsstränge und erklärt gleichzeitig den Originaltitel "L'etá fragile", den Maja Pflug in "Die zerbrechliche Zeit" übersetzt hat. Ausgehend von einer Kriminalgeschichte, die sich in den 1990er Jahren in den Abruzzen tatsächlich ereignet hat, konzentriert sich "Die zerbrechliche Zeit" auf das Schweigen und die Scham, die über einer Berggemeinde in den Abruzzen schweben, und auf die Bedeutung, die Orte bei der Bewältigung von Erinnerung und der Vergangenheit haben.Lucia, die Hauptprotagonistin dieser Geschichte, lebt ein unspektakuläres, ruhiges Leben in einem Bergdorf in den Abruzzen. Ihre Tochter Amanda kann es nicht erwarten in der Großstadt Mailand am wahren Leben als Studentin teilzunehmen und Lucia freut sich, dass Amanda die Freiheit genießt, die für sie damals nicht möglich war. Doch eines Tages, vollkommen unerwartet, kehrt Amanda aus Mailand zurück. Mailand hat mir eine erloschene Tochter zurückgegeben.Lucia versucht herauszufinden, was passiert ist und stößt dabei auf jene Geschichte, die jahrzehntelang von allen totgeschwiegen wurde.Lucia und Doralice sind junge Mädchen. Sie verbindet, wie ihre Eltern, eine tiefe Freundschaft und Doralices Vater betreibt auf dem Grundstück von Lucias Vater einen gut besuchten Campingplatz. Die Schönheit ringsherum ging uns nichts an. Wir bewunderten die Natur nicht, wir mussten uns vor ihr hüten.Zwei junge Camperinnen beschließen spontan zusammen mit Doralice eine letzte Bergwanderung zu unternehmen, denn ihre Abreise steht unmittelbar bevor. Lucia ist an diesem Tag, ohne es ihrer Freundin zu sagen, mit anderen ans Meer gefahren; sie wollte sie dieses Mal nicht dabeihaben und hat ihr den Ausflug verheimlicht. Als die drei Mädchen abends nicht zurückkehren, beginnt eine groß angelegte Suchaktion mit schrecklichem Ausgang. Mit diesem Tag endet nicht nur die Unbeschwertheit der beiden Freundinnen, sondern der ganzen Gemeinschaft. Übrig bleiben eine schmerzhafte Erinnerung, eine quälende Einsamkeit und die schwere Schuld am Überleben, mit denen nicht nur Lucia und Doralice, sondern das gesamte Dorf zurechtkommen müssen. Jede Nacht höre ich ihre Stimme.30 Jahre später beschließt Lucias Vater ihr das Grundstück am Dente del Lupo zu übertragen, den der Immobilienmakler Gerì für ein ehrgeiziges Tourismusprojekt erwerben will. Und völlig unerwartet erhebt Amanda Einspruch. Es scheint, dass dieses Stückchen Wiese, von einem "verachteten Ort, der seit dreißig Jahren verflucht ist" zu einem Ort mit Zukunft wird, und der für Amanda ein Rettungsanker in ihrer zerbrechlichen Zeit ist. "Der Weg ist irgendwo schon vorhanden, aber deine Tochter muss ihn noch finden.""Die zerbrechliche Zeit" ist kein Buch, das man schnell oder oberflächlich lesen sollte. Denn Donatella Di Pietrantonio konzentriert sich darin auf jene besondere Atmosphäre, die das Leben einer Dorfgemeinschaft 30 Jahre lang bedingt. Zwei Handlungsstränge in zwei Zeitebenen erzählt und wenige Romanfiguren genügen, um eine kraftvolle Geschichte zu schreiben, in jener besonderen Qualität, die der Autorin zu eigen ist.FazitDonatella Di Pietrantonios neuer Roman "Die zerbrechliche Zeit" erzählt von der Schwierigkeit einer Dorfgemeinschaft ein kollektives Trauma zu überwinden, das jahrzehntelang das Leben im Ort bestimmt hat. Konfrontiert mit der Angst, die Verantwortung anzuerkennen, ist es die neue Generation, die mit ihrem Mut und ihrer Zerbrechlichkeit hilft, einen alten Schmerz zu lindern.An einem bestimmten Punkt beschleunigt das Leben. Danach bleibt alles an einem Bild hängen, an einem Ton des Augenblicks.