Ein Roman, in den man sich erst einlesen muss, bevor er seinen Sog entfaltet.
Bisher sind zwei Bücher der 1988 in Rom geborenen Autorin Guilia Caminito auf Deutsch erschienen : " Ein Tag wird kommen" und der preisgekrönte Roman " Das Wasser des Sees ist niemals süß". Dass nun auch ihr Debut " Das große A" dem deutschen Leser zugänglich gemacht wird, ist sicherlich dem diesjährigen Gastlandauftritt bei der Frankfurter Buchmesse geschuldet. Aber nicht nur, denn der Roman verdient neue Leser. Wir sind in der Lombardei mitten im Zweiten Weltkrieg. Die 13jährige Giada, Protagonistin des Romans, lebt bei ihrer Tante, einer harten und lieblosen Frau, eine glühende Anhängerin Mussolinis. Hierher kam sie, nachdem ihr Vater die Familie verlassen hat und die Mutter Adele, genannt Adi, nach Afrika ging , genauer gesagt in die ehemalige italienische Kolonie Eritrea. Die drei Kinder wurden bei verschiedenen Familien untergebracht. Obwohl die Mutter regelmäßig Kostgeld schickt, führt Giada ein jämmerliches Leben. Hunger, ständiges Sirenengeheul und die Bedrohung von feindlichen Bombern bestimmen den Alltag. Das Mädchen träumt sich weg von all dem Elend. Dem " großen A" gilt ihre Sehnsucht, dorthin, wo ihre Mutter ein abenteuerliches Leben führt. Dann ist zwar der Krieg vorbei, " die Armut aber noch nicht." Giada, obwohl klug und begabt, hört früh mit der Schule auf und findet Arbeit in der Fabrik. Doch endlich ist es soweit. Ihre Mutter lässt sie zu sich kommen. Von Venedig aus reist die beinahe siebzehnjährige Giada mit dem Schiff nach Assab, den Kopf voller Hoffnungen und Träume. " Aber als sie das erste Mal ankam, waren alle Träume verflogen, wer weiß wohin, mit Sack und Pack emigriert." Die unerbittliche Hitze, die salzige Luft und die Trockenheit, der Dreck überall und die Verwahrlosung, das unverständliche Sprachengewirr - das alles entspricht so garnicht ihren Vorstellungen. Doch bald hat sich die junge Frau mit den Begebenheiten arrangiert. Sie arbeitet in der Bar ihrer Mutter, leidet aber unter deren strengem Regiment. Da lernt sie den Hallodri Giacomo kennen, einen Mann, der gerne große Reden schwingt. Völlig naiv und unwissend stolpert Giada in die Ehe mit einem ihr im Grunde Unbekannten. Während die junge Frau versucht Giacomo eine gute Ehefrau und Söhnchen Massi eine gute Mutter zu sein, führt der Ehemann sein unstetes Leben weiter. Schwiegermutter und Schwägerin setzen ihr zusätzlich zu. Doch Giada beginnt langsam sich zu emanzipieren. Sie will ernst genommen werden, nicht weiterhin das dumme " Püppchen" sein. Das erreicht sie und es kommt sogar eine Zeit, in der sie ihrem Mann sagt, wo es langgeht. Sie bleibt bei ihm, aber nur um ihres Sohnes Willen. Aber dann ändert sich die Situation. " Die Fünfzigerjahre waren vorbei, und mit ihnen ging eine Ära zu Ende....und es begann die Symphonie der Revolution."Die Zeit der Italiener und Engländer im Lande ist vorbei. Und mit den vielen Italienern, die Afrika verlassen, geht erst Adi und später folgt ihr Tochter Giada mit Sohn. Italien empfängt die Rückkehrer keineswegs mit offenen Armen; das Land hat sich verändert. Als auch Giacomo nachkommt, werden sie im großen " R", in Rom, einen Neuanfang versuchen. Der Roman endet nicht mit einem Happy-End im üblichen Sinne, das wäre unrealistisch, aber nicht ohne Hoffnung.Die junge Autorin erzählt uns hier die Geschichte einer Emanzipation, angelehnt an die eigene Familiengeschichte. Die Hauptfigur durchläuft eine glaubhafte Entwicklung, weg von dem naiv-träumerischen Mädchen hin zu einer Frau, die sich zwar Konventionen unterwerfen muss, aber dies zu ihren Bedingungen. Dabei lässt sich diese private Emanzipationsgeschichte als Parabel über die Befreiung eines Landes, lesen. Der Einstieg in den Roman fällt nicht leicht, der gewöhnungsbedürftige Schreibstil lässt dies nicht zu. Hat man sich aber erstmal eingelesen, entwickelt es einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Die Autorin erzählt sprunghaft, wechselt Perspektiven und Zeiten. Souverän beherrscht sie ihren Stoff, mit Vorausdeutungen zoomt sie kurz in die Zukunft oder greift vorangegangene Motive wieder auf. Grandios sind ihre Beschreibungen von Land und Leuten. Hier werden alle Sinne des Lesers angesprochen, man riecht, schmeckt, hört und sieht die Schauplätze des Romans. Auch die historischen und politischen Hintergründe fließen in die Geschichte ein. Der Dünkel der ehemaligen Besatzungsmacht spricht aus der Schwiegermutter, wenn sie meint: " Afrika verdankt uns alles. Jedes Zeichen der Verbesserung haben wir ihnen gebracht, und jetzt sollen wir ihrer Ansicht nach mit Schuldgefühlen leben."Der Roman bedürfte einer Zweitlektüre, denn er greift viele Themen und Aspekte auf: die Rolle der Frau in jener Zeit, Faschismus und Kolonialismus, Auswanderung und Rückkehr. " Das große A" wäre auf jeden Fall ein Buch für Lesekreise, denn es ist fordernd und bietet viel Diskussionsstoff. Ein beachtliches Debut!