Besprechung vom 19.10.2024
Die Kleider der toten Schwester hängen im Korkeichenhain
Grabstein für sich selbst: Michela Murgias letztes literarisches Wort ist der postum erschienene Erzählungsband "Drei Schalen".
Vor einem Jahr ist die sardische Schriftstellerin Michela Murgia an Krebs verstorben. Italien hat mit der 1972 Geborenen eine unkonventionelle, leidenschaftliche, streitbare Intellektuelle verloren, die sich für Callcenter ebenso interessierte wie für die Heilige Jungfrau; in einer "queer family" zu leben, stellte für sie keinen Widerspruch zum Gottesglauben dar. Ihrer Heimatinsel hat sie mit "Accabadora" (2009) ein Denkmal gesetzt: Der Roman über die archaische Seite Sardiniens ist Murgias wichtigstes Werk. Wer das Glück hatte, ihr zu begegnen, lernte eine lebensfrohe, quirlige, aber auch feinsinnig-ironische Person kennen, die ihr Publikum zu fesseln wusste.
Murgias letztes literarisches Werk ist voriges Jahr im Original und jetzt auf Deutsch erschienen: "Drei Schalen", eine Sammlung von zwölf Erzählungen, die in Italien ein Verkaufserfolg wurde. Die teils lose verbundenen Geschichten behandeln meist alltägliche Themen, obschon mit originellem Twist: Sie erzählen von einem jungen Mann, der die Verflossene aus seiner persönlichen Rom-Geographie auszutreiben sucht, indem er schmerzhafte Erinnerungen durch peinliche Erlebnisse ersetzt; von einem Lehrer, der Zeuge einer eigenartigen Mädchenfreundschaft wird, in der die eine sich ritzt und die andere die Schnitte auf dem Arm nachmalt; von einem Arzt, der gegen Corona kämpft und seine Familie in die totale Isolation zwingt; von einer sardischen Bediensteten, die einem engstirnigen Oberst selbst Versuche mit radioaktiven Geschossen verzeiht. Schauplatz fast aller Geschichten ist die Ewige Stadt in der Covid-Phase.
Die Verbindungen zwischen den kurzen Texten erfolgen beiläufig, manchmal versteckt, mitunter gar nicht. In "Gesichtserkennung fehlgeschlagen" erinnert sich der coronabesorgte Arzt an eine Szene, die dem Diagnosegespräch in der Auftakterzählung "Unübersetzbarer Ausdruck" entspricht. In "Animation" rutscht eine Anwaltsgattin wegen des Wegzugs ihres Sohnes in die Midlifekrise, die sie kompensiert durch die Liebe zu Park Jimin, einem K-Pop-Sänger, dessen lebensgroße Pappfigur in ihrem Kleiderschrank lockt, bis sie die Nacht dort verbringt. Eben diese Pappfigur findet die Hauptfigur der darauffolgenden Erzählung in einer Mülltonne. Die Konsequenz: Der Leser fragt sich, was aus der Hausfrau am Rande des Nervenzusammenbruchs geworden ist.
All diese eher banalen Szenen und Situationen zeichnen sich durch ihre Bedeutungscharge aus. In "Armengrab" plaudert die junge Trainerin mit ihren Schützlingen nach dem Handball vor der Halle; bei der Gelegenheit massakrieren die Jungs eine Kanalratte. Sie will den Kadaver nicht auf der Straße liegen lassen, gräbt aber nicht tief genug: "Deshalb stellte ich mich mit den Füßen auf die Erhebung und sprang darauf herum, bis Erde und Kadaver weitgehend platt waren. Es war kein Laut zu hören, doch bei dem Gefühl, wie der Körper unter dem Druck von Humus und Schotter nachgab, musste ich würgen. Was die Tritte der Jungs noch heil gelassen hatten, zertrat ich nun mit meinem Stampfen. Am Ende war die Erde wieder eben. So schien es mir."
Was in dieser Szene, die Pietät und Ekel mischt, implizit verhandelt wird, ist die Vergangenheit der Trainerin: die Misshandlung durch den Vater, die Anklagen der Mutter, der Bruch mit der Familie. Der Gewaltausbruch ihrer Ersatzfamilie führt dazu, das legt der offene Schluss nahe, dass ihre Vergangenheit wiederkehrt, eventuell verarbeitet wird. Hier zeigt sich eine Eigenschaft von Murgias Storys in pointierter Weise: Die geschilderten Ereignisse haben das Zeug, zu einem Erkenntnismoment oder einem anderen Wendepunkt im Leben der jeweiligen Hauptfigur zu werden.
Den Rahmen der Sammlung bilden zwei Erzählungen, die angesichts des Schicksals der Autorin besonders berühren. "Unübersetzbarer Ausdruck" schildert das Gespräch einer Schriftstellerin mit ihrem Onkologen, in dem der ihr die Krebsdiagnose mitteilt. Die Diagnose (Nierenkarzinom, Stadium vier) und manche Gedanken erinnern an Interview-Äußerungen von Murgia, als sie ihre Krankheit publik gemacht hatte, besonders die Formulierung, der Krebs als Teil des eigenen Körpers könne kein Feind sein, das martialische Vokabular vom Kampf gegen die Krankheit sei deplatziert. "Übergangszeit" hingegen, die letzte Geschichte, ist sozusagen postum. Eine Lehrerin hängt die Kleider ihrer verstorbenen Schwester in Bäumen auf: "Der gesamte Korkeichenhain des Ferienhofs, in dem sie das Abschiedsessen zu Ehren ihrer Schwester veranstaltete, wirkte trotz der Mittagsstunde wie ein Geisterwald, durch den die leeren Hüllen der Frauenfiguren spukten, die die Verstorbene im Laufe ihres Lebens ausprobiert hatte." Die Schwester fordert jeden Trauergast auf, ein Kleidungsstück mitzunehmen.
Ohne dass dies ausbuchstabiert würde, antwortet die letzte auf die erste Geschichte: durch die Krankheit und Details wie die Gegenwart der Schwester, die Relevanz von Kleidung. Man hat den Eindruck, dass die Sardin ihren Abschied vorweggenommen hat, indem sie die Trauer anderer zeigt, über eine Tote, deren "Kleider reglos an den Bügeln hingen wie Reptilienhäute, abgelegte Hüllen jener Schlange, die ihre Schwester gewesen war, giftig und warm und voller Windungen". Nicht alle Erzählungen halten das Niveau, was freilich in Sammlungen oft so ist; die gemischte Aufnahme in der bisherigen deutschen Kritik verwundert daher etwas. Denn es ist ein schöner Grabstein, den sich Murgia setzt, leicht, oft ironisch, wandelbar - aber ganz und gar nicht flatterhaft. NIKLAS BENDER
Michela Murgia:
"Drei Schalen".
Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach Verlag, Berlin 2024. 160 S., geb.
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