Besprechung vom 18.12.2024
Nicht vergessen, immer schön das Horoskop lesen
Verheddert in Geschlechterklischees: Emilia Roig sinniert über Liebe und die klassische Paarbeziehung
Der queerfeministische, postromantische Gefühlsratgeber hält sich seit einiger Zeit als Trendgattung auf dem Buchmarkt. Unter anderem bei Carolin Wiedemann ("Zart und frei", 2021) und Seyda Kurt ("Radikale Zärtlichkeit", 2021) konnte man sich informieren, weshalb das Private unbedingt politisch ist und wie sich Beziehungen heute jenseits sexistischer, rassistischer und kapitalistischer Strukturen bewerkstelligen lassen. Unlängst hat auch die in Frankreich geborene, in Berlin lebende Politologin und Aktivistin Emilia Roig das Thema für sich entdeckt. In "Das Ende der Ehe" (2023) geißelte sie die institutionalisierte Zweisamkeit als Hort heteronormativer Unterdrückungsmechanismen und plädierte "für eine Revolution der Liebe".
Diesem revolutionären Sendungsbewusstsein bleibt Roig auch in ihrem jüngsten Essay "Lieben" treu, wenn sie auf recht überschaubarem Raum einmal mehr die altbekannte Generalkritik an der klassischen Paarbeziehung und der Kernfamilie artikuliert. Dabei gibt die Autorin viel von sich preis, eindrücklich berichtet sie von traumatischen Verlust- und Gewalterfahrungen. Doch sobald sie auf die allgemeine Ebene wechselt, kippen ihre Ausführungen ins Banale, Holzschnittartige oder Dogmatische.
So steht für Roig fest, dass es innerhalb einer Frauenfreundschaft grundsätzlich liebevoller, anarchischer und solidarischer zugeht als in einer Ehe. Auch ist hier ausgemachte Sache, dass polygame Beziehungen entlastender und weniger egoistisch sind als monogame. Zwischendurch wartet Roig mit bahnbrechenden Erkenntnissen auf: Sex ist auch ohne Liebe möglich, und nicht jede Form der Liebe hat eine sexuelle Komponente.
Recht erwartbar liest sich auch Roigs Plädoyer für einen liebevolleren Umgang mit der Tierwelt und der Natur. Gleiches gilt für die Passage, in der unter Berufung auf Eva Illouz das traditionelle romantische Liebesideal mit seinen Absolutheits- und Ausschließlichkeitsansprüchen als sozial konstruiertes, kapitalistisch korrumpiertes, trügerisches Glücksversprechen entlarvt wird. Roigs eigene Verheißungen klingen allerdings auch nicht unbedingt überzeugend: "Nur wenn es uns gelingt, die Hierarchie der menschlichen Beziehungen und die Übermacht der Paare zu überwinden, werden wir ein wirklich erfülltes und unabhängiges Leben führen können."
Neben selbstgerechter Einfallslosigkeit und Undifferenziertheit zeichnet sich der Band durch auffallende Widersprüchlichkeiten aus. So beschreibt Roig sich selbst zunächst als "queer" und macht sich ausdrücklich für die Sache all jener stark, die sich nicht durch die Gefühls- und Beziehungsnormen der traditionell binären Ordnung gebunden sehen. Doch spätestens wenn sie in der zweiten Hälfte des Essays unterkomplexe Aufklärungskritik betreibt, verheddert sie sich heillos in Geschlechterklischees.
Folgt man Roig, handelte es sich bei den wissenschaftlich-humanistischen Umwälzungen um 1700, die das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen transformiert haben, um nichts anderes als um den ressentimentgeladenen Siegeszug eines "maskulinen kognitiven Stils", der die Überlegenheit des "intuitiven weiblichen Wissens" einfach nicht mehr ertragen und ihm deshalb ein Ende bereitet habe (Hexenverfolgung). Vor dem ewig Weiblichen, wie Roig es beschwört, fürchtet sich das Patriarchat natürlich bis heute, "weshalb eine seiner wichtigsten Aufgaben darin besteht, Frauen von ihrer Wildheit, von dieser instinktiven Essenz zu trennen". Roig hält diesen Weiblichkeitsessenzialismus offenkundig für Feminismus.
Und blanken Aberglauben hält sie für "Spiritualität". Das wird im letzten Kapitel deutlich, in dem Astrologie und Horoskope als herausragende Mittel zur Selbsterkenntnis und als Waffe im intersektionalen Befreiungskampf angepriesen werden. Wer die Liebe, wie sie in diesem Band vorgestellt wird, praktizieren möchte, dem wird empfohlen, "den so stark ausgeprägten Individualismus unserer Zeit zu verlernen". Wenn man sich die esoterischen Denkschablonen Roigs zu eigen macht, dürfte dieser Verlernprozess ganz schnell gehen. MARIANNA LIEDER
Emilia Roig: "Lieben".
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2024.
128 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.