Ein Buch wie ein Kindheitssommer, ausschweifend, »sturzoffen« und leuchtend schön.
»Wenn das alles gewesen ist, ziehe ich aus! «, ruft da eine und macht sich in ihren Meilenstiefeln, ihren Reisesocken davon. Auf der Rückbank: ein Hase. Es geht einmal quer durch die Zeit, die Zeitalter und hinaus, ins knalldunkle All. Im Strichflieger durch den Himmel und die Erinnerung: an zwei Großmütter, eine helle, eine dunkle, eine heile, eine wunde. Einen Großvater, seine furchigen Hände. Einen Bruder und seinen Baum. An rasende Träume, krumme Märchen und einen Purple Rain.
Maren Kames' Hasenprosa ist quecksilbrig und herznah. Sie ist voller »Punk, Punk, Punk« und Zärtlichkeit. Fein Gesponnenes steht neben präzise gebannter Weltwahrnehmung. Wir hören Glenn Gould und Billie Eilish, sehen Lionel Messi durchs Universum dribbeln und seilen uns mit dem Hasen von Fixsternen ab.
Besprechung vom 11.10.2024
Der Hase hört ihr zu
Konsequente Fortsetzung eines literarischen Programms: Maren Kames begibt sich mit ihrem Roman "Hasenprosa" in beste langohrige Gesellschaft.
Geduld bitte, was dieses Buch betrifft. Denn wenn Sie auf so etwas wie eine normale Romanhandlung warten, dann müssen Sie bis Seite 125 durchhalten, nach mehr als zwei Dritteln des Umfangs. Dort setzt eine ergreifende Großmutter-Beschreibung ein. Aber es ist nicht so, als hätte es nicht schon vorher Reizvolles zu lesen gegeben, und zwar auch über alle vier Großeltern der Ich-Erzählerin Maren - die nicht zufällig denselben Vornamen trägt wie die Romanautorin und ganz generell so ziemlich alles mit ihr teilt: Familie, Vorlieben und Erfahrungen. Mit Ausnahme von Marens Begegnung mit einem Hasen, der als Cicerone für sie fungiert: erst durch Hollywood, dann auf dem Weg hinab ins imaginäre Mississippium und hinauf in den Himmel, schließlich in die afrikanische Savanne. Dazwischen aber macht Maren Station am Bodensee und in Mittelhessen: bei ihren Großeltern in der Erinnerung. Der Hase hört ihr dabei zu.
Der Titelheld dieses Buchs ist kein Osterhase, vielmehr eine Reminiszenz an das berühmteste Langohr der Weltliteratur, das weiße Kaninchen aus "Alice im Wunderland". Auch Maren verschlägt es in ein Phantasiereich, allerdings ihr eigenes. Das sich zusammensetzt aus einem Potpourri kultureller Prägungen. Die akribischen Quellennachweise dazu füllen sechseinhalb Seiten, und da ist Lewis Carrolls "Alice", weil im Text nicht direkt zitiert, nicht einmal dabei. Die Breite von Marens Faszinationen mag folgender Satz andeuten: "Wenn ich an Versenkungsidole denke, denke ich jedenfalls hinter allen Glenns [gemeint ist Gould] und Agneses [Martin], hinter allen Basquiats, Messis und Princes eigentlich vor allem oder immer auch an meinen einzigen, exakten Bruder und seinen einfachen schweren Baum." Dieser Bruder heißt Florian, wie der Bruder der Romanautorin, und der Baum verweist auf eine Kindheitserinnerung. Vor allem ist diese "Hasenprosa" ein Familienroman. Das wird ganz deutlich in Marens Selbstbefragung über ihre bevorstehende Arbeit an dem, was wir nun lesen: "Du stehst nur circa vier Fußbreit hinter der Schwelle, vor der du jetzt fünf, sechs Monate herumgezögert hast, scharrend, hirnend, die Penetranzen und Hyperpräsenzen von Biografie und Autofiktion hin und her wälzend, wuchtend - und beeinflusst von den handelsüblichen Hormonen, den bedrohlich vibrierenden Infrastrukturen innen und außen, und in Anbetracht aller zwecklosen Vorbereitung stehst du vielleicht erst recht unter einem DONNER DOWN MEMORY LANE, seltsamen Eindruck, Einfluss. So - wie viel erzählst du, von den Leuten in deiner Familie? Was wählst du aus, wie formst du das?" Letztere Frage dürfte durch diese Leseprobe zur Genüge beantwortet sein; sie ist durchaus repräsentativ für den Großteil des Romans (mit Ausnahme der auf Seite 125 einsetzenden Großmutter-Erzählung).
Sie hält uns hin und unterhält uns dabei aufs Beste
Also ein experimenteller Roman, als konsequente Fortsetzung dessen, was seine Verfasserin, die 1984 geborene Maren Kames, in ihren beiden Gedichtbänden "Halb Taube, halb Pfau" und "Luna Luna" bereits vorgeführt hat: dass sie sich um keine Genreerwartungen schert, sondern höchstpersönlich und pop- wie hochkulturell gesättigt schreibt, gerne angereichert mit multimedialen Elementen wie etwa den QR-Codes in "Luna Luna", die den Gedichtzyklus zum Klingen brachten. So etwas bietet "Hasenprosa", mit dem sie nun zum Suhrkamp-Verlag gewechselt ist, also in die Erste Liga, nicht, aber am Schluss gibt es neben dem Quellenverzeichnis auch noch Listen mit "manifesten", "subkutanen" und "begleitenden Soundtracks" - Liedern, die Maren Kames ins Geschehen eingebaut hat, die sie inspiriert oder beim Schreiben erfreut haben. Wer bei der Lektüre der "Hasenprosa" nicht ständig versucht ist, via Spotify oder Youtube anzuhören, was die Maren des Romans da beschreibt, der dürfte keine Antenne haben für die literarische Mission der realen Maren Kames. Oder keinen Internetanschluss.
Allein die nicht einmal zweiseitige Epiphanie der Erzählerin beim Betrachten eines Konzerts von Prince im Jahr 1985 ist das ganze Buch wert. Damals wurde mehr als eine Viertelstunde lang "Purple Rain" gespielt, und der Gesang begann erst nach sechs Minuten. Diesen späten Einsatz dessen, worauf alle warten, hat sich Kames zum Vorbild für ihr Schreiben genommen. Sie hält uns hin und unterhält uns dabei aufs Beste. Nicht nur durch die Herausforderungen ihres literarisch ambitionierten Projekts, sondern auch durch das romantische Pathos darin. Der 170 Seiten lange Roman schließt mit dem Satz: "Vom Himmel fiel fliederner Regen." Auf Liebeserklärungen an die Kunst versteht sich Maren Kames. Die zahlreichsten gelten Friederike Mayröcker.
Es gibt auch Bilder im Buch, manches found footage aus den Weiten des guten Geschmacks der Autorin, anderes eigene Fotografien, die gegen Ende auch noch eine nichtliterarische Inspirationsquelle für das Hasenmotiv offenlegen: einen zerfallenden mexikanischen Kaktus (Opuntia microdasys) in der Wohnung von Maren Kames. Sorgsam hat sie jedes einzelne "Hasenohr" (so die umgangssprachliche Bezeichnung für seine Pflanzenglieder) abgelichtet, sodass wir sehen können, was die Maren des Romans etwa so beschreibt: "ein winziger, grüßender Ableger, der Ähnlichkeiten mit R2D2 hatte und leider auch ein wenig mit einem unbeholfenen, sehr kleinen Nazi".
Wissensschnipsel zu Evolution und Astronomie sind in die Welt- und Weltraumreise eingebaut, und immer wieder treibt die Neugier auf das, was man erfahren und wie man es darstellen kann, die Ich-Erzählerin zu Gesprächen mit dem (nase-)weisen Hasen. Einmal, im Mississippium, dem "chronostratigraphisch ältesten Subsystem des Karbons", klingt das so: "Da weiß ich Bescheid, ömmelte ich und nahm ihm zaghaft das von irgendwoher aufgetauchte Monokel von der Nase. Er ließ mich machen." Kluger Hase. Denn das beschreibt, wie man mit Maren Kames umgehen sollte: machen lassen. Riesenspaß ist garantiert. ANDREAS PLATTHAUS
F.A.Z., 30. März 2024
Maren Kames: "Hasenprosa".
Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 182 S., Abb., geb.
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