Besprechung vom 12.10.2024
Die Ästhetik des Erwartbaren
Reisebericht aus einer rätselhaften Welt: Stefanie Sargnagel zeigt in "Iowa", wie man Bilder im Kopf der Hörer schaffen kann.
Von Ole Kaiser
Von Ole Kaiser
Sie beschreibt präzise. Einerseits die Außenwelt. Das Gesehene, das Geschmeckte und Gerochene, das Berührte. Andererseits ihr Inneres. Das also, was sie bei alledem denkt. Und das ist viel. Glücklicherweise hat sie zugleich den Mut, das Gedachte frei und umfänglich preiszugeben. Gepaart mit einer außerordentlichen Beobachtungsgabe, die man sich als Journalist auch für einen selbst wünscht, führt das zu einem intensiven Erlebnis. Für den Hörer kommen der weiche warme Klang ihrer Stimme und die Wiener Mundart hinzu (sie liest ihr Buch selbst), die einen beruhigen und berühren.
Das Hörbuch zu Stefanie Sargnagels zweitem erzählerischen Werk, "Iowa", nimmt einen mit auf die Reise zweier Frauen in die Einöde des mittleren Westens der Vereinigten Staaten. Die eine Reisende ist Sargnagel selbst, die an einem liberalen, für deutsche Verhältnisse sauteuren College im Örtchen Grinnell in der Pampa "Creative Writing" an Deutschstudenten vermitteln soll. Die andere ist die 25 Jahre ältere Musikerin Christiane Rösinger (die in humorvollen, "Gegendarstellungen" genannten Fußnoten gelegentlich das von Sargnagel Ausgeführte aus ihrer Sicht schildert), die dort einen Auftritt hat.
Der Untertitel gibt Aufschluss über das, was uns während des neun Stunden dauernden Hörbuchs erwartet: "Eine Reise nach Amerika". Sargnagel erzählt eben nicht von einer Reise "in ein gespaltenes Land" oder in ein anderes aufgeblasenes Synonym, das versuchte, aktuelle gesellschaftliche Dramatiken in eine kurze Unterzeile zu klöppeln.
Der Stil hält sich daran. Sargnagel spricht von der Ästhetik des Erwartbaren, das aber penibelst genau. In "Ioah", einem "Corn-State", der dörflich geprägt ist, findet sie sämtliche "Simpsons"-Klischees bestätigt: fettes Essen, fette Menschen, viele Rednecks, MAGA-Schilder im Vorgarten. Gefühlt jeder Einwohner hat ein Waffenarsenal im Wandschrank, geht jagen, trägt Basecap, Flanellhemd und langen Vollbart. Sargnagel versucht erst gar nicht, dem Klischee etwas Besonderes anzudichten.
Gestört wird diese Hinterwäldler-Idylle in Grinnell von besagtem College, das liberal ist, multikulti, queer, feministisch, woke. Zunächst haben diese Welten wenig miteinander zu tun. Sie bestehen vielmehr über weite Strecken der Erzählung parallel, obwohl der Campus mitten im Örtchen liegt, bis Sargnagel gegen Ende hin auffällt, das auch die Akademiker-Bubble zwischendurch in den örtlichen Kaschemmen mit den kleinbürgerlichen Durchschnittsalkoholikern herumhängt.
Die Handlung dümpelt vor sich hin, wie es auch Sargnagel und Rösinger tun. Die beiden latschen durch die Gegend, erkunden das immer weniger als Beobachterin denn als Teilnehmerin erlebte Midwest-Idyll, in dem sich besonders Sargnagel nach anfänglicher Fremdelei immer heimeliger fühlt. Hier fährt jeder für jede noch so kurze Strecke mit dem Auto ("Nicht mal nen Kaffee kriegst du hier ohne Karre"), alles ist groß ("Die kleinsten Becher fassen einen Liter, die größten vier") und fett ("Als Iowa-Breakfast wird eine Kombination aus Spiegelei und einem 300 Gramm schweren Rinderkotelett angeboten"). Langsam kennt sie die Bars, die Frau hinter der Theke eines in Wasser schwimmende Truthahnmägen und "pickled eggs" servierenden Ladens, in dem Light-Beer zwei Dollar kostet und immer die gleichen Besoffenen herumhängen, darunter einer namens "Homer", der diesen Simpson auf den Arm tätowiert hat.
In "Iowa" geht es auch um eine Freundschaft zweier Frauen aus unterschiedlichen Generationen des Feminismus. Rösinger, die als nach wie vor tourende Musikerin und Künstlerin um die sechzig das fleischgewordene Rebellentum verkörpert ("Das einzige Roll-Model in der Literaturgeschichte für cooles Altern als alleinstehende Frau ist die Hexe"), übernimmt in der Beziehung trotz höheren Alters nahezu permanent den Part der unangepassten Adoleszenten, ist bockig, euphorisch, kleinkriminell (sie stiehlt in Drogerien) und findet sich nicht recht in die Einöde ein ("Im Reich der tödlichen Langeweile kann sogar die Qual eine Abwechslung sein"). Sargnagel, die ihr Leben zwar auch nicht im Sinne bürgerlicher Stromlinienförmigkeit im Griff hat (sie raucht und trinkt zu viel, fühlt sich zu dick, lebt oft in den Tag hinein), ist über weite Strecken die Vernünftigere, deren Alltag als immer wieder zu führender Kampf darum dargestellt wird, nicht die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren.
Im Haus, das sie in Iowa bewohnen, entwickeln die beiden Frauen ein fast familienähnliches Verhältnis, zwischen ihnen ist alles harmonisch, eingespielt, klar: "Christiane nimmt ihre Sofaposition ein. Ich setze mich auf meinen Sessel. So war es immer, so sind wir es gewohnt. Seit 50 Jahren."
Sargnagel reflektiert anhand alltäglicher Beobachtungen pointiert gesellschaftliche Verhältnisse und kontrastiert diese mit Erfahrungen aus Wien und Berlin. Ein Waffenladen wird nach Beschreibung in mehreren Zeilen zum "Epizentrum militärischer Männlichkeitsideale", der Vokuhila eines Mannes wird zentraler Bezugspunkt eines Vergleichs des Midwest-Hinterlands mit der hippen deutschen Hauptstadt: "In Berlin trägt man das wieder, in Iowa noch."
So ist "Iowa" nicht einfach ein netter Reisebericht einer sich noch nicht recht selbst gefundenen Künstlerin. Vielmehr erzählt Sargnagel darin die Geschichte zweier Frauen und ihres eigenen Selbstwertgefühls, ihrer Zweifel, aber auch ihrer Freundschaft zueinander und ihrer Lebenslust. Sie freunden sich vor allem deshalb an, weil sie beide die tradierten Geschlechterrollen nicht akzeptieren wollen. Rösinger löst sich davon vollumfänglich, Sargnagel kann das nicht, etwa wenn sie vom Druck einer "tickenden Uhr" spricht, den sie als kinderlose Mittdreißigerin spüre. Aber man hört ihr gerne zu, weil sie das Spannungsfeld auszutarieren versucht, das jeder kennt: das Leben gebacken kriegen, ohne von ihm zermahlen zu werden.
Stefanie Sargnagel: "Iowa". Ein Ausflug nach Amerika. Autorinnenlesung.
Argon Verlag, Berlin 2024. Download, 547 Min.
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