Die Welt ist zum Verändern da, nicht zum Ertragen.
Früher war die Zukunft besser. Heute scheint keiner zu glauben, dass es unseren Kindern mal besser gehen wird. Muss das so sein? Muss es nicht! Der Soziologe und erprobte Zukunftsarchitekt Harald Welzer entwirft uns eine gute, eine mögliche Zukunft: Darin gibt es Städte ohne Autos, Schulen ohne Gebäude, die Menschen erhalten ein Grundeinkommen, und Grenzen gibt es auch nicht mehr. Erfrischend und ermutigend zeigt Welzer: Die vielbeschworene Alternativlosigkeit ist in Wahrheit nur Phantasielosigkeit. Alles kann tatsächlich anders sein. Man braucht nur eine Vorstellung davon, wie es sein sollte. Und man muss es machen.
Besprechung vom 25.06.2019
Wer braucht denn Künstliche Intelligenz
In der Schweiz liest man ihn schon überall: Harald Welzer versteht sich auf das Metier des Weltrettungsratgebers
Etwas läuft (und läuft und läuft) falsch in diesem Land: "ein Facharbeiter in der Autoindustrie verdient heute mehr als ein Professor an der Uni". Dabei schraubt so ein Professor, lies: Sozialpsychologe, nicht einfach fahrende Untersätze zusammen, sondern komplette Utopien, verpasst also der von all den "Supersize-Burgern" ("entfremdete Bedürfnisse") verfetteten "Hyperkonsumgesellschaft", die das Träumen verlernt, professoral gesagt: "die Produktivkraft Träumen ruiniert" habe, ein sozialökologisches Upgrade, zumindest in der Theorie, dafür inklusive Nachhaltigkeit (Umweltkosten einkalkulieren; Wachstum einstellen), Gerechtigkeit (die Gewinne einer "dienenden" Wirtschaft aufteilen) und Sinnerfüllung (ehrenamtlich tätig werden statt abhängen in Freizeitparks, auf Weihnachtsmärkten oder - Gipfel der Enthirnung - Kreuzfahrten).
Auch der Gassenhauer vom bedingungslosen Grundeinkommen wird wieder angestimmt, ohne ihm freilich Originelles beizusteuern: In Sachen Finanzierbarkeit muss eine Bezugnahme auf Richard David Precht ausreichen. Arbeit werde ohnehin allgemein überbewertet, erfahren wir, zumal heute Maschinen die "schlechte Arbeit" respektive "Scheißarbeit" übernehmen könnten. Sie müssten dann eben nur so besteuert werden, dass der erwirtschaftete Mehrwert nicht Kapitalisten zu Wanste schlage, sondern der Allgemeinheit. Wer in Vorleistung treten soll, um die Maschinen anzuschaffen und ihren Betrieb zu finanzieren (oder sie überhaupt zu konstruieren), wird nicht vorgerechnet, was ein wenig schwach ist, wenn sich eine Träumerei explizit als "neuer Realismus" ausgibt.
Warum der Facharbeiter bei Daimler oder BMW als überbezahlt gilt, ist freilich leicht zu klären, denn in der hier erträumten Zukunft "für freie Menschen" gibt es "weder Autos noch Autostraßen noch Ampelanlagen noch Zebrastreifen noch Parkplätze". Zumindest für die nach antikem Polis-Modell wieder "analog" gewordenen Städte gilt das; auf dem Land darf es durchaus einmal angehen, dass ein selbstfahrendes Monstrum "die Oma zum Einkaufen abholt oder zum Arzt fährt" (fällt wohl unter "Scheißarbeit"). Wer nun einwenden möchte, dass schon heutige Stadtbewohner oft mit dem Thema "keine Parkplätze" konfrontiert seien, hat den Ernst der Angelegenheit nicht erfasst, denn Welzer spricht mit dem heiligen Eifer und der Humorfreiheit des Propheten-Prediger-Revoluzzer-Pädagogen.
Und natürlich hat der Autor - wie in all seinen vorangegangenen Wälzern - analytisch in fast allem recht, so sehr, dass es beinahe schon nervt. Daher die Freude über kleine Widersprüche. Als Philippika gegen dreisten Neoliberalismus, zumal in seiner neusten Spielart "Plattform-Kapitalismus", ist das Buch jedenfalls ein Vergnügen: Wie Jeff Bezos oder Elon Musk abgewatscht werden, wie es dem verbreiteten "Konsumismus" und "Bequemismus" an den Kragen geht, wie "Bullshit-Jobs", politische Phantasielosigkeit (Tafelsilber verhökern), stumpfe Xenophobie, linke Gender- und rechte Identitätspolitik rhetorisch niedergewalzt werden, das hat Zug und Feuer.
Sympathisch ist auch der Ansatz des positiven Denkens: Wir sollen uns von immer bedrohlicheren Untergangsszenarien, so begründet sie sein mögen, nicht in depressive Apathie versetzen lassen, sondern in Ansehung all der positiven Entwicklungen, die es eben auch gibt, den Glauben daran erhalten, viele Fehler noch korrigieren zu können. Kunst als Geburtshelfer von Utopien zu begreifen ist keine ganz neue Idee, aber hier wird nicht dem alten Schiller Aufwartung gemacht, sondern postdramatischen Kollektiven wie "Rimini Protokoll" oder dem "Zentrum für politische Schönheit".
Anregendes steckt auch in Welzers praktischen Visionen, sosehr sie als "modulare Revolution" und "Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt" leicht peinlich überverkauft wirken: Systematik ist in dem "Baukasten" nämlich nicht zu erkennen. Eine Kultur der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft tut aber sicher ebenso not wie kostenloser Nahverkehr. Auch mehr Gemeinwohlökonomie schadet selten. Zudem kann der Autor auf die eigene Stiftung Futurzwei verweisen, die lebensnahe "Geschichten des Gelingens" sammelt. Als Modell für eine hierarchiefreie Gesellschaft nun ausgerechnet die Schweiz heranzuziehen, darf man als Privatmarotte verstehen: "In der Verwaltung der Uni, an der ich in der Schweiz lehre, kennen Leute aus der Verwaltung Bücher von mir." Damit bewiesen sei ein höheres "Zivilisierungsniveau". Ob eine Welt ganz ohne Grenzen sich allerdings so leicht einrichten ließe, wie der Autor annimmt, der bei freier Arbeitsmigration Staatsbürgerrechte durchaus den je "eigenen" Bürgern vorbehalten möchte und sich damit gehörige Probleme aufhalsen dürfte, das bleibe dahingestellt - ein schöner Wunsch, angesichts härter werdender Grenzregime, auch das.
Welzer gehört eben zu den Guten, sei es im Einsatz für Seenotrettung, die wohl nur Unmenschen ablehnen können, sei es bei der Betonung von globaler Verantwortung (Reichtum soll sich weltweit gerechter verteilen), dem (eher beiläufigen) Einfordern von Klimaschutz oder dem Plädoyer für mehr lokales Engagement. Freilich unterscheidet sich das Buch in dieser Hinsicht nur wenig von anderen Weltverbesserer-Manifesten. Was ihm dann aber doch einen eigenen, problematischen Charakter verleiht, ist der Umstand, dass sich der Autor von "Die smarte Diktatur" (2016) erneut an seinem Lieblingsfeindthema abarbeitet, der Digitalisierung, die als Inbegriff alles Schlechten, Hässlichen, Unwahren allenfalls zur Steuerung dienender Roboter akzeptiert wird. Wo aber Berechnung wertvollen Kontingenzerfahrungen den Garaus mache, entstehe "eine komplett ereignislose Welt". Und das ohne jeden Grund: "Wenn Stadt soziale Intelligenz ist, was sollen wir dann mit künstlicher?"
Man merkt überhaupt nach und nach, dass Welzers zukünftige Welt des aufgeklärten Kapitalismus stark der vergangenen ähnelt. Sich digital natives einmal nicht anzubiedern, tut durchaus wohl, aber wenn das digitale Neuland von weit außen pauschal und rentnerhaft verworfen wird - "Wie lange würden Menschen überleben, die nur Daten zu essen und zu trinken hätten? Eben" - dann tappt man in die AKK-Falle. Vermutlich würde nicht nur die Rezo-Fraktion, sondern selbst die neugrüne "Fridays for Future"-Jugend auf paternalistische Ideen wie "Systemabschaltungen" oder "Netzfreizeit" - "Die Leute müssen den Kopf wieder freikriegen, dann lernen sie auch wieder, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden" - verschnupft reagieren. Unbestritten aber dürfte Welzers wichtige Aufforderung sein, mit einem nachhaltigeren Lebensstil noch heute dort zu beginnen, wo es schon möglich ist, anstatt die nötige Weltrettung immer weiter aufzuschieben - nicht zuletzt durch die Lektüre oder das Verfassen von immer weiteren Weltrettungsratgebern.
OLIVER JUNGEN
Harald Welzer: "Alles könnte anders sein". Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 320 S., geb.
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