Besprechung vom 14.03.2021
Kampf den digitalen Bewusstseinsfressern
Jenny Odells sprunghafter Aktivismus fürs Nichtstun
Dass das Nichtstun im Angesicht der sogenannten Aufmerksamkeitsökonomie ein großes Thema ist, versteht man sofort. Wenn die digitalen Plattformen noch die letzten Bewusstseinsströme von einem haben wollen, um sie gewinnbringend weiterzuverwerten, ist die einzig angemessene Antwort die des Schreibers Bartleby aus der gleichnamigen Erzählung von Herman Melville: Ich möchte lieber nicht. Kulturkritisch groß dagegen anwettern hilft erst mal nicht viel, weil auch das sofort eingespeist wird in den "Content" der Industrie. Was also tun, um nichts zu tun?
Das Buch "Nichts tun" der amerikanischen Künstlerin Jenny Odell verspricht da jetzt "eine praktische Anleitung zum Nichtstun als Akt des politischen Widerstands". Das ist sehr willkommen. Tatsächlich ist ja gerade die Kunst auf eine solche Verweigerung angewiesen, will sie nicht ihrerseits zu einer bloßen Zulieferindustrie der Plattformen werden. Zentrale Fragen werden in diesem Buch angetippt, die hinter der Frage nach der richtigen Weise des Nichtstuns stecken: Wie kann man das Bewusstsein erden? Wie kann man Freiheit erringen, ohne sich isolieren zu müssen? Was sind die Zugänge zur Wirklichkeit, die einem gegenüber den digitalen Medien Souveränität verschaffen könnten?
Am nächsten kommt Odell einer Antwort darauf bei der Beschreibung einiger Kunstwerke, die sie als "Aufmerksamkeitstrainingsgeräte" bezeichnet. Der Maler David Hockney hatte bei der Herstellung seiner digitalen Videoinstallation "Seven Yorkshire Landscapes" etwa zwölf Kameras seitlich an sein Auto montiert und war damit langsam mehrere Straßen in seiner Heimat Yorkshire entlanggefahren. Das Ergebnis war eine Wand von Bildschirmen, auf denen die Betrachter die Fahrt anhand der aufgenommenen Videos nachvollziehen konnten - doch sowohl die nicht ganz abgestimmten, etwas versetzten Bildausschnitte als auch die extreme Langsamkeit der Bewegung erzeugten ein ganz ungewohntes Wahrnehmungserlebnis. "Und dabei kann man sich so vieles genauer anschauen, dass einem nicht langweilig wird", sagte Hockney dazu: "Der Prozess des Betrachtens selbst ist die Schönheit." Odell berichtet von den Reaktionen vieler Museumsbesucher, die danach auch die Wirklichkeit draußen ganz anders betrachteten: Sie sahen den Botanischen Garten in der Nähe des Museums "neu, in all seiner kaleidoskopischen Schönheit".
Das ist wie ein optisches Pendant zu jenem "Deep Listening", das die Komponistin Pauline Oliveros in den siebziger Jahren lehrte und das eine erhöhte Aufmerksamkeit auch für die Geräusche des täglichen Lebens und der Natur umfasste. Odell selbst hat eine ähnliche Erfahrung bei der Vogelbeobachtung gemacht, die einem tatsächlich abverlange, nichts zu tun: "Vogelbeobachtung ist das Gegenteil davon, online nach etwas zu suchen." Man könne da nur leise gehen und warten, bis man etwas hört.
Der Performance-Künstler Tehching Hsieh hat 1978 eine existentiell noch eingreifendere Installation geschaffen, als er für sein Werk "Cage Piece" einen nur wenige Quadratmeter großen Käfig in seinem Atelier aufbaute. Die Performance bestand darin, dass sich Hsieh ein ganzes Jahr lang in diesem Käfig einschloss und sich selbst dazu verpflichtete, in dieser Zeit nicht zu sprechen, zu lesen, zu schreiben oder Fernsehen zu gucken. Ein- oder zweimal im Monat durfte ihn das Kunstpublikum in seinem Käfig besichtigen. In einem Interview beschrieb Hsieh das Verhalten der Leute draußen: Sie füllen ihre Zeit aus und versuchen damit, "ihr Leben mit Sinn zu erfüllen". Er aber sei am Gegenteil interessiert: "Was würde passieren, wenn er alles leeren würde?"
Auf eine weitere Pointe dieses Experiments weist Odell an anderer Stelle hin. Hsieh habe nach seinem Jahr im Käfig gesagt, sein Geist sei während dieser Zeit nicht im Gefängnis gewesen. Odell zieht daraus den Schluss, dass immerhin der "geistige Raum" die Möglichkeit biete, durch einen inneren Vorbehalt die Bande der digitalen Plattformen zu lösen. Wenn die Firmen einen auch dazu bewegen können, sich eine bestimmte Werbung anzusehen, dann wissen sie noch lange nicht, wie man sie sich ansieht. Man könnte sie sich zum Beispiel wie eine Aikidokämpferin anschauen, die ihren Gegner besser kennenlernen möchte, um ihn mit seiner eigenen Energie zu überwinden.
An solchen Stellen merkt man, was für ein großartiges Buch das hätte werden können, wenn seine Autorin versucht hätte, dem Nichtstun auf den Grund zu gehen. Aber leider hat Jenny Odell das nicht getan, sie hat das große Thema verschenkt. Weshalb das so ist, wird schon von den ersten Seiten an klar. Es geht erst mal los mit einem Walter-Benjamin-Zitat ("Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe"). Zu Recht wird dann die Enteignung der gelebten Erfahrung durch Algorithmen beklagt, aber nur ganz knapp, um dann schon auf der zweiten Seite zu Robert Louis Stevenson überzugehen, der "bereits 1877" "extreme Emsigkeit" als "Zeichen für mangelnde Lebenskraft" bezeichnete. Dann ist der Weg nicht weit zu Seneca ("frage dich, wie viel dir von deinem Leben durch andere weggenommen worden"), der so klinge, wie die Autorin nicht unterlässt anzumerken, als sei er gerade "aus dem Stupor einer auf Facebook vertanen Stunde erwacht".
So geht's 273 Seiten lang weiter in einem fort: Ein Zitat von Gilles Deleuze, Thoreau, Diogenes, John Cage und so vielen anderen beliebten Zitatlieferanten reiht sich an das nächste, unterbrochen nur von Überleitungen, bei denen das Ich der Autorin oft eine große Rolle spielt, wenn dieses etwas hört, ihm im Rosengarten etwas auffällt, es Studenten etwas erklärt. Zusammengehalten wird das alles nur dadurch, das es in einem irgendwie gefühlten Zusammenhang zu den Themen sinnvolles Leben, Muße und Kapitalismuskritik steht. Eine zwingende Argumentation aber, die der beanspruchten Radikalität gerecht würde, unterbleibt.
Weder setzt sich Odell näher mit der spezifischen Bedrohung des Bewusstseins durch die digitalen Plattformen und deren politischen Konsequenzen auseinander. Noch prüft sie die einschlägigen Ansätze aus der Geistesgeschichte darauf, inwieweit sie in der Konfrontation mit den Aufmerksamkeitsfressern heute fruchtbar sein können - die Muße-Theorien der antiken Philosophie, die buddhistischen Überlegungen zu einer Geistesgegenwart, die sich den Gedankenschleifen entzieht, der taoistische Begriff des "Wu wei" (Nicht-Handelns), all das wird allenfalls gestreift. Immerhin stellt dieses Buch das Nichtstun als ein neues Feld des Aktivismus vor, und das ist ja schon einiges. MARK SIEMONS
Jenny Odell: "Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen". Aus dem Englischen von Annabel Zettel. C. H. Beck, 296 Seiten
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