Besprechung vom 20.08.2022
Pointenregen über Paris
Sie lässt es knallen, nicht nur auf der Kabarettbühne: Lisa Eckharts elektrisierender Roman "Boum"
Für ihren zweiten Roman hat Lisa Eckhart selbst eine Deutung vorgelegt: "Hochliteratur unter der Gürtellinie". Je länger man das Buch liest, desto öfter erinnert man sich daran. Der Aufprall des Hohen und Niederen erzeugt in dem Buch einen Dauerkitzel, und weil hoch und tief kaum mehr zu unterscheiden sind, seit die Grenzen in Kunst und Gesellschaft eingerissen sind, kommt es zu einer rekordverdächtigen Pointendichte. Jeder Satz strebt bei Lisa Eckhart zur Pointe, und fast jeder trifft sie. Man kann das nur bewundern.
Paris ist in dem Buch eine Hure und eine Lady, die eigentlich nur ihre Ruhe will von dem garstigen Touristenheer, das sie Tag für Tag so unzart berührt. Seit diversen Attentaten muss die Stadt pars pro toto die westliche Lebensart verteidigen. Wann immer die Islamisten zuschlagen, versammelt sich ein Chor hinter ihr: Unsere Freiheit, unsere Werte, unser Lebensstil, die lassen wir uns nicht nehmen. Aber was sind das eigentliche für Werte, und was ist das für eine Freiheit, und haben beide Stil? Es ist an der Zeit, diese Fragen zu beantworten.
Eine eigentümliche Gereiztheit liegt in Eckharts Roman über der Stadt, die doch gelassene Reife verkörpern soll. An den Ufern der Seine und ihren Seitenkanälen treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Seine Opfer sind Straßenmusikanten, die er kunstvoll an den Saiten ihrer Instrumente aufknüpft, wenn die welche haben. Dem Bürgermeister kommt das nicht ungelegen, weil Serien- anders als Massenmörder die touristische Attraktivität erhöhen. Der ermittelnde Kommissar ist mäßig interessiert, warum, wird sich später herausstellen. Dazu kommt der titelgebende Terrorexperte Boum, der einen Islamtick und ein Schuhfaible hat und zur Aufklärung wenig beiträgt.
Die Erzählfäden laufen jedoch bei der Figur der jungen Österreicherin Aloisia zusammen, die wie Lisa Eckhart aus der steirischen Kleinstadt Leoben kommt, aber sonst mit ihr nichts gemein hat. Aloisia will vom Leben nicht viel und hat allgemein wenig mitzuteilen. Sie ist "sprachlich frigide", heißt es im Roman, und wer immer das auch von Lisa Eckhart gedacht hat, muss seinen Irrtum bald eingestehen. Lisa Eckhart ist eine sprudelnde, entfesselte Erzählerin. Gemeinsam haben Autorin und Heldin eine gewisse Wurschtigkeit gegenüber Dingen, die andere wichtig nehmen. So vielredend die Autorin ist, kann sie der allgemeinen Redseligkeit doch nichts abgewinnen. Warum nicht einmal schweigen und die Wirklichkeit in sich aufsaugen?
Aloisia tut das fast übermäßig. Sie ist in dem Roman überall, wo sich das Geschehen verdichtet, wie eine Art Medium. Ihr Geliebter Romain teilt mit ihr ein Bett, aber keine Gefühle, und ist deshalb nur mäßig traurig, als sie dem Bettlerkönig Clopin folgt, der ihr ein Apartment verschafft und einen Job in einem Hostessen- und Callgirlring. Dort macht sie eine erstaunliche Karriere und leistet sich zeitweise fruchtlose Gefühle. Die Ermittlungen treten derweil auf der Stelle, der Serienmörder macht eine Pause, dafür tritt das Bettlerheer auf den Plan mit einer Befreiungsaktion in einem Tierladen. Die Bettler können Musikanten nicht leiden, teils fühlen sie sich von ihnen akustisch in Mitleidenschaft gezogen, teils überflügelt in der allgemeinen Anerkennung. Deshalb sind sie zu ihnen sehr garstig. Aber macht sie das schon zu Mördern?
Es gibt in dem Buch kein unten und oben. Die Bettler sind der Bauch der Stadt mit der Ambition, auch ihr Gehirn zu werden. Dafür müssen sie nur ihre Regeln usurpieren, die sich von einem globalen Autohaus kaum unterscheiden. Werte werden auf- und abgeschraubt oder wechseln den Träger. Die Hostessen bekommen schnell zu spüren, dass sie keine Huren sind und nie solche werden. Durch die Workshops und Festbankette laufen gläserne Wände. Jeder hat seine klar umrissene Aufgabe. Die Hure erfrischt und erquickt den Gentleman nach langer Arbeit, lenkt ihn aber nicht ab von seinen Projekten. Man schmückt sich mit viel falschem Lorbeer. Der Bürgermeister hat einen antikolonialistischen Globus, auf dem der Süden nach oben zeigt, zur Freude der postkolonialen Studenten. Tierrechte stehen weit oben auf der gesellschaftlichen Agenda, aber Menschenrechte sind noch nicht abgeschrieben. MeToo, Femen, Klimakids und das globale Unternehmertum sitzen am selben Tisch und schütteln sich die Hände. Die Achtsamen bekommen reichlich ihr Fett weg. Kurz: Paris ist eine neohöfische Gesellschaft mit einem strengen Affektmanagement, das für Lust und Begehren keine Planstelle hat. Vielleicht sehnt man sich deshalb so sehr nach dem großen Knall.
Lisa Eckhart schreibt zeremoniell. Sie wählt feierliche Wörter wie "abermals" oder "Grundgütiger", ihre Relativsätze beginnt sie mit "welcher". Das gibt ihren Pointen einen malerischen Klang und ihren Sätzen eine feine Melodie: "Tränen rodeln mit Freude über gepuderte Gesichtchen." Oder: "Wehmütig beobachtet der Terrorexperte, wie sich das Feuer in das dünne, weiße Kleid seiner Gitane frisst." Im Pointenregen der Erzählung sind diese Sätze poetisches Treibgut. Lisa Eckhart, eine der hellsten und originellsten Kabarettistinnen der deutschen Sprache, will schnell voran. Als Kabarettistin bezieht sie den Humor aus der überraschenden Verknüpfung entlegener Gegenstandsfelder. Auch das Buch ist voll greller Genrewechsel und schneller Schnitte. Erzählerische Ruhe stellt sich darüber nicht ein. Figuren werden angelegt und gehen verloren, verkümmern zum Slapstick. So hat das Buch eine große Oberflächenspannung, von der aus die Autorin immer wieder in die Tiefe stößt, ohne dort so recht anzukommen. Den einzelnen Kapiteln vorangestellte Zitate deuten an, dass es ihr wichtig ist, den individuellen Herzschlag und den Pulsschlag der Stadt miteinander zu verbinden, das Ergebnis ist die maximale Dissonanz.
Alles drängt zum großen Finale, dem ultimativen Knalleffekt, den Lisa Eckhart standesgemäß serviert. Die Bettler kommen aus der Höhle gekrochen, und Speiteufel klettern von den Fassaden. Die Islamisten drücken ein Auge zu, vielleicht ist ihre Stunde aber auch noch gar nicht gekommen, oder vielleicht war der ganze Karneval ja nur die Ruhe vor dem noch größeren Knall. THOMAS THIEL
Lisa Eckhart:
"Boum". Roman.
Zsolnay Verlag, Wien 2022. 368 S., geb.
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