Besprechung vom 16.10.2021
Schreiben ist das einzig Verlässliche
Familienaufstellung II: Julia Franck erzählt "Welten auseinander" von sich selbst und doch über das, worin wir alle verstrickt sind.
Von Melanie Mühl
Unsere Erinnerung ist trügerisch. Sie führt uns hinters Licht und legt Verklärungsschleier über die Vergangenheit. Sie täuscht uns, ein ums andere Mal. Zu gern tappen wir in ihre Falle. Doch was wären wir ohne sie? Nichts.
In Julia Francks neuem Buch "Welten auseinander", das kein Roman ist, sondern eine Art Familienbiographie und - das sei an dieser Stelle bereits gesagt - ein Ereignis, heißt es einmal: "Wir können nicht wählen, woran wir uns erinnern und was wir vergessen. Die Gnade des Vergessens erscheint mir, je älter ich werde, umso geheimnisvoller und göttlicher. Das Warten, die Zweifel, die Nachricht. Im Nichts. Vergessen als Tugend."
Der Ich-Erzählerin aber geht es ums Erinnern ohne Schonung, an ihr prekäres Aufwachsen in einer Künstlerfamilie, die dem Kind, der Jugendlichen und Erwachsenen alles an seelischer Kraft abverlangt. An eine Großmutter, die Blöcke aus Stein künstlerisch bearbeitet, Literatur und Theater liebt, nicht Großmutter sein möchte und keine Liebe zu verschenken hat. Darin ähnelt sie der um sich selbst kreisenden Mutter der Ich-Erzählerin: Anna. Die ist eine Frau, die ihre Kinder deren eigenem Schicksal überlässt, in Rage mit Gegenständen um sich wirft, sich beim Essen mit der Innenseite einer Avocadoschale das Gesicht einreibt, nackt durchs Haus läuft, die Sozialhilfe in Zigaretten investiert und bisweilen erst aufsteht, wenn ihre Töchter bereits aus der Schule nach Hause kommen, was die Ich-Erzählerin mit dem nüchternen Satz kommentiert: "Jeder hatte seinen Rhythmus."
Ende der Siebzigerjahre wird Annas Ausreiseantrag genehmigt, und sie verlässt die damalige DDR mit ihren vier Töchtern, die unterschiedliche Väter haben. Die erste Unterkunft ist für knapp neun Monate das Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde, fünf Menschen auf wenigen Quadratmetern, bevor es weiter nach Schleswig-Holstein geht, wo die Heimatsuchenden in einem heruntergekommenen Bauernhaus in einem Dorf am Nord-Ostsee-Kanal eine Bleibe finden. Mitte dreißig ist Anna damals, eine Schauspielerin, auf die niemand im Westen gewartet hat. Die Ich-Erzählerin, die eine Zwillingsschwester hat, ist acht. Sie kommt sich falsch vor, überflüssig, würde am liebsten verschwinden. Nur wohin? Die Kinder im Dorf hänseln sie, fragen, ob die hexenähnliche Mutter eine Nutte sei und sie selbst eine Zigeunerin. Woher all der "Tüdelkram" komme, der im Haus rumfliege. Kinderworte, unschlagbar in ihrer Brutalität.
Von Seite zu Seite wartet, ja hofft man als Leser inständig, dass sich doch noch alles irgendwie zum Guten wendet, als ließe sich die Liebe in einer Familie oder einer anderen Beziehung einfach anknipsen. Doch die Liebe folgt "keiner Erwartung, keinem Zwang oder Entschluss".
Die Ich-Erzählerin beginnt mit dem Tagebuchschreiben, es ist Flucht und Rettung zugleich. Zu Papier bringen, was man ertragen muss, über das Sterben nachdenken, ohne es zu tun. "Die einzige verlässliche Beziehung, die ich in meiner Kindheit entwickelte, war die zu meinem Tagebuch."
Julia Franck hat 2019 dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach ihr Archiv überlassen, mit Ende vierzig: Romanmanuskripte, Essays, Briefwechsel, Übersetzungen. Für Marbach war dieser Schritt der Berliner Schriftstellerin ein Grund zur Freude, für die Leserschaft nicht. Bedeutete diese Entscheidung nicht, dass Franck, die für ihren monatelang auf der Bestsellerliste stehenden, in vierzig Sprachen übersetzten Roman "Die Mittagsfrau" 2007 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, sich vom Schreiben verabschiedete? Ihr letzter Roman war 2011 unter dem Titel "Rücken an Rücken" erschienen.
Dass sie dem Schreiben die Treue gehalten hat, ist ein großes Glück. Dass sie sich dieses Mal für eine stark autobiographisch geprägte Geschichte entschieden hat, eine Überraschung.
Die Qual eines dreizehnjährigen Kindes muss unvorstellbar sein, wenn es freiwillig seine Zwillingsschwester verlässt, die Mutter, das als Zuhause gedachte Haus. In Berlin ansässige Freunde der Familie, Steffi und Martin, erklären sich bereit, die Ich-Erzählerin aufzunehmen. Sie darf in einer Dachkammer wohnen, deren Tür sie am liebsten verschließt. Ab und zu wechselt Franck jetzt die Perspektive und ersetzt das Ich durch "das Mädchen". Einmal überlegt das Mädchen, "ob es den Mitschülerinnen jetzt endlich sagen soll, dass seine Urgroßmutter und Großmutter Jüdinnen sind, die Mütter seiner Mutter, so dass es selbst nach der Halacha ebenfalls Jüdin ist. Wenn auch nicht fromm. Und was heißt das dann? Das Mädchen kann nicht selbstverständlich sagen, ich bin Jüdin. Das Mädchen ist nichts. Es schweigt."
Vor allem aber kämpft es, putzt, hütet Kinder und Katzen, verdient Geld, wird älter, probiert Drogen. Die Ich-Erzählerin erobert neue Räume. Mit achtzehn lernt sie den aus bürgerlichem Hause kommenden Stephan kennen. Ihre Sehnsucht, nach den vielen Jahren des Chaos zur Ruhe zu kommen, ist groß. Und trotzdem: "Es geschah unwillkürlich und vielleicht ohne Grund und Ziel, weder weil Stephan es wollte noch ich selbst. Liebe ist ein ähnliches Wunder wie Seele und Leben." Es wird eine schöne, eine tragische Liebesgeschichte.
Das größte Kunststück, dass Julia Franck in "Welten auseinander" gelingt, ist der von Selbstmitleid und Bitterkeit vollkommen freie Ton der Ich-Erzählerin. Fast protokollarisch berichtet sie bisweilen von ihren Erlebnissen im Irrenhaus Familie. Sie ist ihr entwachsen und bleibt ihr doch auf ewig verbunden, wie jeder von uns mit seiner Vergangenheit auf eine Weise verstrickt ist, die sich manchmal nur erahnen lässt.
Julia Franck: "Welten auseinander".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021.
369 S., geb.
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