Besprechung vom 28.01.2021
Schicksal ist nicht das Wort
Monika Helfer schreibt mit "Vati" die Saga ihres Erfolgsromans "Die Bagage" fort - unsentimental, ruhig, packend
"Wir sagten Vati. Er wollte das so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste." So beginnt dieser Roman, und die "neue Zeit" beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Vati ist beinahe ein Schreckenswort, hart, ohne Zärtlichkeit, anders als das weiche Papa. Und Vati verlangte, dass die Kinder zu ihrer Mutter, die "aus dem hintersten Wald" stammte, nicht Mama, sondern "Mutti" sagten. Nicht nur das wird ihm nicht gelingen.
Der Knabe, der Monika Helfers Vater sein wird, kam aus dem Lungau, einem Bezirk im österreichischen Bundesland Salzburg: "Die Familie der Ärmsten war besser dran als mein Vater und seine Mutter." Denn die Mutter war die Magd eines Bauern und ledig; der Bauer war der Vater; Mutter und Sohn hausten in einem Schopf neben seinem Haus. Der Sohn, der Josef hieß, war kleiner als die anderen Buben, sie ließen ihn nicht mitspielen. Er sah mit seinem schwarzen Haar und seiner reinen weißen Haut fast "wie ein Mädchen" aus. Dennoch wurde er zur "Respektsperson": "Wer ruhig spricht, dem unterstellt man, er sehe keine Veranlassung zur Aufregung. Das hat man gern. Deshalb hatten alle meinen Vater gern." Auch der reichste Mann in der Gemeinde Mariapfarr, der Baumeister, mochte ihn und gewährte ihm Einlass in seine Bibliothek, in der 1324 Bücher standen. Dort beginnt der spätere Vati, in sein Schulheft Walter Scotts Heldengeschichte "Ivanhoe" abzuschreiben. So werden Bücher zum Kostbarsten für ihn.
Ein halbes Jahr vor der Matura muss er in den Krieg, bald nach Russland, wo ihm ein halbes Bein abfror. Im Lazarett wurde ihm der Unterschenkel amputiert, und dort lernt er Grete Moosbrugger kennen, die ihn pflegt; sie macht ihm den Heiratsantrag und wird die Mutter der Autorin und ihrer Geschwister. Der gemeinsame Weg führt die junge Familie bald auf die Höhe der Tschengla in Vorarlberg, wo die Mutter herkam; dort wird der Vater zum Verwalter eines Kriegsopfer-Erholungsheims. Es beginnt ein Leben unter Versehrten, wie auch er einer ist, beschädigt sind sie alle an Leib und Seele.
In das Haus kommt über das Vermächtnis eines Professors eine veritable Bibliothek, Leidenschaftsort für den Vater, an den er seine Tochter mitnimmt. Vielleicht hat er dort einmal, so rekonstruiert Monika Helfer im Gedächtnis, einen Band herausgeholt, ",Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren' von Charles Darwin. Er würde mir das Buch herunterreichen. ,Leg es auf den Tisch, wir schauen es uns gemeinsam an.'" Das kleine Mädchen begreift, dass sie einen eigenen Weg zum Verständnis der anderen Menschen suchen muss. Der väterliche Moment ist ihre Initiation in die Schrift, ins eigene Schreiben, das sie für sich wählen wird. Für den Vati gerät die begehrte Bibliothek zum weiteren Unglück. Weil er Angst hat, sich eines Bücherdiebstahls schuldig gemacht zu haben, versucht er, sich zu vergiften. Er wird gerettet; doch er hat sich unwiederbringlich von seiner Familie entfernt. Die Distanz verschärft bald darauf der frühe Tod seiner Frau, der Mutter seiner vier Kinder Gretel, Monika, Richard und Renate. Es ist nicht nur sein Selbstentwurf gescheitert.
Mit "Vati" schreibt Monika Helfer ihre Saga fort, die mit dem Roman "Die Bagage" begonnen hat: als eine behutsam eindringliche Wiederherstellung ihrer eigenen Herkunft. Dort ging sie zurück zu ihren Großeltern, ihren Onkeln und Tanten und zu ihrer Mutter Margarethe, die Grete genannt wurde - zu ihren "eigenen Leuten", die als die Ärmsten der Armen am Rande eines Dorfs in Südtirol lebten. "Die Erinnerung muss als ein heilloses Durcheinander gesehen werden", heißt es in der "Bagage" einmal, "erst wenn man ein Drama daraus macht, herrscht Ordnung." Diese Vorgeschichte fließt in das aktuelle Buch ein, das dennoch für sich stehen kann.
Monika Helfer bleibt bei ihrer Methode, Gegenwart und Vergangenheit ständig zu verschränken, ohne einzelne Kapitel dabei durchzuschreiben in einem Erzählfluss, der immer wieder retardiert und vorausweist, Realität und Fiktion zusammenfügt. Als die Mutter so früh stirbt, der Vater abwesend bleibt, handeln die verbliebenen Mitglieder der Bagage. Die Kinder werden in der Sippschaft verteilt, deren Zusammenhalt unverbrüchlich ist. Ohne Scheu ist die Katastrophe registriert, die das für die jungen Geschwister bedeutet, als Selbstrechenschaft ohne die geringste Sentimentalität.
"Mein Vater hieß Josef", steht ziemlich am Anfang: "Es gibt Namen, die haben ein Gewicht. Sie können ein luftiges Gewicht haben oder ein schweres. Meine Schwester Renate hat ihren Sohn Josef genannt. Nach unserem Vater. Und nach unserem Vater mütterlicherseits. Der hieß nämlich auch so. Und dann gab es auch noch den Onkel Josef. Es sei ein Schicksalsname in unserer Familie, er solle nicht aufhören. Ich weiß, was sie damit meint. Ich würde ein anderes Wort verwenden als ,Schicksal'. Aber ich möchte nicht darüber nachdenken, was für eines, es macht mich müde." Das "andere Wort" für Schicksal gibt es nicht mehr im Roman. Doch das Geschehen über die Jahrzehnte und Generationen hin hat etwas Folgerichtiges, nachgerade Biblisches, stigmatisiert bis ins vierte Glied. Als würden all die Verletzungen in der Wunde, die das Bein des Vaters immer bleibt, in der fehlenden Gliedmaße ihr Signum finden. Einmal sitzt die kleine Monika am Fuß der Treppe im Kriegsopfer-Erholungsheim und poliert den Schuh am unteren Ende der Prothese, nachdem sich die Eltern, einander anlächelnd, zu einer Mittagsruhe zurückgezogen hatten.
Wahrhaftigkeit ist das Wort für Monika Helfers Art zu erzählen. Wie alles in der Wirklichkeit war, kann sie gar nicht wissen. Immer wieder hält sie inne, schiebt ein, dass sie es sich so vorstelle, dass es so gewesen sein könne, gar müsse, weil sie es sich so wünscht. Aufrichtigkeit ist das andere gute Wort für diese Anstrengung des Erinnerns. Denn die Erinnerung ist schmerzhaft, manchmal ist sie aber auch freudvoll, leise Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies, zu dem auch der Vater gehörte. Darin liegt die Kunst dieses Schreibens, das in keinem Moment die Haltung eines Vorwurfs einnimmt, im Gegenteil: "Wer sich entschuldigt, ist schuldig", heißt es einmal in "Die Bagage", ein Spruch des scharfsinnigen Mutterbruders Lorenz. Und wer den ersten Stein schmeißt, der macht sich schuldig.
Es bleibt, bei allem Bösen, die versöhnliche Anmutung der sprichwörtlichen verlorenen Liebesmüh'. So passte der "Vati" auf eine seltsam invertierte Weise tatsächlich in die "neue Zeit". "Wir alle haben uns sehr bemüht", lautet der letzte Satz des Romans, er steht da als ein eigener Absatz.
ROSE-MARIA GROPP
Monika Helfer: "Vati". Roman.
Hanser Verlag, München 2021. 176 S., geb.
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