Besprechung vom 02.03.2020
Komm, sobald du kannst
Krimis in Kürze: Stefan Slupetzky, Nicci French und Carlos Hanimann
Ein englisches Sprichwort besagt, man solle ein Buch nicht nach seinem Cover beurteilen. Nun müssen wir ergänzen: bitte auch nicht nach seiner Autorin. Unter dem Pseudonym Nicci French erschreiben sich die Eheleute Nicci Gerrard und Sean French seit mehr als zwanzig Jahren einen Psychopathenstadl, dessen ideales Habitat die Bahnhofsbuchhandlung abgibt: Dutzendware für den Last-Minute-Kauf. Von ganz anderem Kaliber ist ihr neuer Thriller "Was sie nicht wusste" (C. Bertelsmann, 448 S., br., 16,- [Euro]). Neve, verheiratet, drei Kinder, erhält eine SMS von ihrem Liebhaber: "Komm, sobald du kannst." Sie gehorcht und findet ihn in seinem Apartment bereits in der Horizontalen vor - mit eingeschlagenem Schädel. Statt die Polizei zu rufen, schreitet sie zu einem Postmortem-Wohnungsputz, womit sie jedoch nicht nur die Spuren des Ehebruchs, sondern auch des Mordes verwischt. Anschließend webt sie eine engmaschige Textur aus Lügen und Geheimnissen, die den Plot dynamisiert und zugleich ins Wanken bringt.
Obwohl es sich um einen Roman in der dritten Person handelt, weicht der Leser nie von Neves Seite. Jede Dummheit, jeden Fehler und jeden Affekt nimmt er wie durch ein Brennglas wahr. Im Mittelpunkt stehen mithin die Winkelzüge der Protagonistin, nicht die Nachforschungen der Londoner Polizei. Zu den Verdächtigen zählen bald alle wichtigen Figuren, was, kombiniert mit der grandiosen Schilderung familiärer Schieflagen, einen Sog erzeugt, dem man sich kaum entziehen kann.
Das lässt sich über Stefan Slupetzkys neuen Krimi "Im Netz des Lemming" (Haymon, 200 S., geb., 19,90 [Euro]) nicht behaupten. Im sechsten Roman um Leopold "Lemming" Wallisch, der früher Polizist war und inzwischen als Nachtwächter im Wiener Zoo arbeitet, stürzt sich ein Junge in den Tod, nachdem er auf dem Smartphone eine Nachricht gelesen hat. Da Wallisch zuvor mit dem Jungen in der Straßenbahn gesehen wurde, vermuten die Trolle der sozialen Netzwerke, er sei schuld an dem Selbstmord. Daraufhin beginnt eine Recherche, die von Unterhaltung zu Unterhaltung führt, wobei die Gesprächspartner zu Stammtischgeheule im Endstadium neigen: Political Correctness hier, Binnen-I da.
Weil dieser Kolumnenroman um die Abgründe des Internets kreist, versucht sich Slupetzky an der Diktion der Digital Natives: "Gib Check, Digga", "Wetehaa", "O Em Dschi", "Chill dein Leben", "Voll episch". Kleine Aphorismen gehen daneben fast unter: "Weißt du, das Erbärmlichste am Altwerden ist nicht der körperliche Niedergang, es ist, dass dein Geschmack nicht mitaltert." Hübsche Beobachtung, aber keineswegs satisfaktionsfähig, wenn man Slupetzky mit den beiden großen österreichischen Sprachverdrehern und Wortkaskadeuren Wolf Haas und Heinrich Steinfest vergleicht.
Vergleiche liegen ebenfalls nahe, sobald es um True Crime geht, denn auf diesem Gebiet haben die Amerikaner stilbildend und voluminös vorgelegt. Der Journalist Carlos Hanimann übt sich in seinem Bändchen "Caroline H. Die gefährlichste Frau der Schweiz?" (Echtzeit, 79 S., br., 24,- [Euro]) allerdings in Zurückhaltung. Auf wenig Raum wird wenig ausgebreitet: Caroline H. hat 2001 ausgesagt, zwei Frauen in Zürich ermordet zu haben. Spuren? Keine. Motiv? Nicht erkennbar. Zeugen? Fehlanzeige. Außerdem soll sie für Körperverletzungen und mehr als fünfzig Brandstiftungen verantwortlich sein. Später hat Caroline H. ihr Geständnis widerrufen. Ist das glaubhaft? Hanimann schreibt: "In der Kriminologie weiß man, dass Geständnisse eine häufige Fehlerquelle sind."
Und in der Publizistik weiß man, dass eine Geschichte tragfähig sein muss, vor allem wenn sie als Buch erscheint. Viele Klassiker des Genres sind ellenlang, weil das Material ergiebig ist. Hier verhält es sich anders. So umfangreich die Recherche des Autors auch gewesen sein mag, am Ende lesen wir von anonymen Briefen, schweigsamen Anwälten und Hinweisen zu einem Mann, der einen der Morde, die Caroline H. zur Last gelegt werden, begangen haben könnte - zufriedenstellend überprüfen lässt sich das aber nicht. "Oft landete ich in einer Sackgasse", bekennt Hanimann. Das liest man dem Buch auf fast jeder Seite an.
KAI SPANKE
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