Besprechung vom 27.10.2024
Tour de Schnee
Ein Jahrhundertroman war Thomas Manns "Zauberberg" von Anfang an. Aber erst in diesem Jahr wird er tatsächlich hundert. Hans Castorp, der Protagonist, suchte auf den Gipfeln über Davos nach dem Sinn des Lebens. Wir sind ihm nachgegangen, Schritt für Schritt.
Von Andreas Lesti und Carlo Giambarresi (Illustration)
1. Ankunft
Im Tal ist es Sommer, 24 Grad, Menschen in T-Shirts und kurzen Hosen, die Eisdielen haben geöffnet. Aber oben, im Hochtal von Davos, auf 1500 Metern, hängt der Winter noch fest wie ein lästiger Verwandtschaftsbesuch, den man nicht mehr loswird: Minusgrade, ein eisiger Wind, auf den Dächern der Châlets türmt sich der Schnee anderthalb Meter hoch, und noch immer schneit es zart aus einem grauschlierigen Himmel. Auf der Schatzalp, noch einmal 300 Meter über Davos, sieht man abends die Lichter der Pistenraupen über die Hänge wandern, morgens wird man von den dumpfen Detonationen der Lawinensprengungen geweckt, und in den Nachrichten laufen besorgniserregende Berichte über Schneeunfälle in der Schweiz. Im April. So ist das im Gebirge!
Wir sind wegen des Schneekapitels des "Zauberbergs" in Davos. 40 Seiten großartige Literatur, das Herzstück des Romans, in dem so ziemlich alles steckt, was Thomas Mann ausmacht. Geist, Leben, Tod, Krankheit, Liebe. Auch die Liebe zur Sprache, jeden einzelnen Satz könnte man herauspicken, drehen und wenden und wie ein schimmerndes Juwel ausstellen. Und es ist - was man nicht von jedem Kapitel dieses im November vor hundert Jahren erschienenen 1000-Seiten-Wälzers behaupten kann - kurzweilig, abenteuerlich und spannend.
Denn der lungenkranke Hans Castorp, Protagonist des Romans, will dem Sanatoriumsdasein entfliehen. Er will raus aus der Welt der Kranken, will sich bewegen, in der Natur, im Gebirge, im Schnee. Und so macht er sich eines Tages auf, kühn und voller Tatendrang und entscheidet sich gegen den Rat seiner Ärzte, eine Skitour zu unternehmen. Er flieht, mit einem Paar hellbraun lackierter Eschenholz-Ski, in einer langärmeligen Kamelhaarweste und Wickelgamaschen, hinauf zur Schatzalp.
2. Tischgespräche
Als wir im "Hotel Schatzalp" ankommen, endet die Wintersaison gerade. Überall wird geräumt, geschraubt, gepackt, die Mitarbeiter rufen sich in verschiedenen Sprachen Kommandos zu, schleifen Matratzen über die Flure, tragen Tische in den Keller, fahren Wagen voller Bettwäsche in den Aufzug. Nur die vier an der Rezeption dösenden Hauskatzen scheinen von dem ganzen Trubel unbeeindruckt. Ein paar letzte Gäste frühstücken im schneeweißen Speisesaal, sitzen auf weißen Stühlen an weißen Tischen, vor weißen Wänden mit großformatigen Bildern von weißen Schwänen, die wirken wie Halluzinationen. Am Buffet kann man sich Thomas Mann einverleiben. Von einer Marzipantorte blickt der Nobelpreisträger den Gästen etwas verschoben entgegen. Sein Konterfei wurde in acht Stücke zerschnitten. "100 Jahre Der Zauberberg" steht darunter. Auf den Tischen kündigt die Hauspostille "Schatzette" das Wetter an, "3-6 Grad, Schnee mit Regen vermischt", und verabschiedet die Gäste "ins Tal" - dieses "Tal" klingt wie ein Paralleluniversum.
Dafür, dass es der letzte Tag einer langen Wintersaison ist, wirkt der Hoteldirektor erstaunlich entspannt. Paolo Bernardo hat Zeit für einen Kaffee und ein Gespräch. Er erzählt von dem unaufgeregten Umgang mit dem Roman. Man wolle das nicht überstrapazieren. Es gibt im Hotel ein paar Tafeln mit Zitaten und neben der Rezeption eine Vitrine mit dem Buch auf Deutsch und auf Englisch, "The Magic Mountain", auch die Marzipantorte kann man hier kaufen. "Natürlich von Niederegger aus Lübeck", sagt Bernardo. Ob die Gäste noch wegen des "Zauberbergs" kommen? "Ja, das tun sie. Vergangenes Jahr ist eine Gesellschaft von 80 Leuten aus Amerika eingeflogen", erzählt Bernardo. Eine Hochzeit, das Paar habe sich bei einem Leseforum in Seattle kennengelernt, das erste Buch, das sie dort gelesen hätten, sei der "Zauberberg" gewesen. Und deswegen wollten sie auf der Schatzalp heiraten, obwohl sie zuvor noch nie in der Schweiz waren. Und wenn jemand fragt, wo der Zauberberg ist? "Na hier!" Und wenn sie ihn besteigen wollen? "Na ja, dann sagen wir, das ist nicht so genau definiert." Denn einen Berg mit diesem Namen gibt es in Davos natürlich nicht.
Wir gehen in Bernardos Büro, von wo aus er einen guten Blick auf die mit der Standseilbahn ankommenden Gäste hat. Auf einer Kommode liegen, auf einem Silbertablett mit Stoffserviette, zwei Buchbände. "Eine Erstausgabe von 1924, mit Provenienz", sagt Bernardo, die habe er auf einer Versteigerung in Deutschland gekauft, anlässlich des Jubiläums. "Darf man fragen, was sie gekostet hat?" - "Nein, darf man nicht."
3. Zweifel und Erwägungen
"Der Zauberberg" ist die Geschichte von Hans Castorp, dem jungen Kaufmannssohn aus Hamburg, der in diese eigentümliche Welt der Berge gerät. Er besucht im Sanatorium Berghof seinen Vetter Joachim Ziemßen "für drei Wochen", wie Castorp es sich vorgenommen hatte. Ziemßen klärt ihn gleich bei seiner Ankunft über die Berge auf: "Du siehst die Baumgrenze fast überall, sie markiert sich ja auffallend scharf, die Fichten hören auf, und damit hört alles auf, aus ist es, Felsen, wie du bemerkst. Da drüben, rechts von dem Schwarzhorn, dieser Zinke dort, hast du sogar einen Gletscher, siehst du das Blaue noch? Er ist nicht groß, aber er ist ein Gletscher, wie es sich gehört, der Scaletta-Gletscher. Piz Michel und Tinzenhorn in der Lücke, du kannst sie von hier aus nicht sehen, liegen auch im Schnee, das ganze Jahr."
All diese Berge sind real, und von der Schatzalp aus kann man sie sehen. "Aber wir selbst sind scheußlich hoch. Sechzehnhundert Meter über dem Meer", erklärt der Flachländer Ziemßen. Castorp ist überfordert, bemüht, sich in diese ihm fremde Topographie einzufügen, wird selbst krank oder bildet es sich ein und versucht, seine Krankheit in den Griff zu kriegen. Er verliebt sich zu allem Überfluss auch noch und ist überforderter als zuvor. Er lernt Menschen kennen, die ihn manipulieren, bis ihm schwindelig wird, und in all den langen Reden, Vorträgen und Reflexionen spiegelt sich die weltpolitische Lage Europas. So langsam wird dem Leser klar, dass Hans Castorp länger bleiben wird als nur drei Wochen. Schleichend wird er zu einem Teil der kranken Welt dort "oben" - und bleibt noch ganze sieben Jahre. Und inmitten dieser Geschichte ist das Schneekapitel eine Art misslungener Fluchtversuch.
Aber wo genau war er nun im Schnee unterwegs? Lässt sich die verwegene Tour heute noch nachvollziehen? Leider kann man sie nur ungefähr erahnen. Thomas Mann nennt außer dem Startpunkt (Schatzalp) und dem Ziel (Brämbühel in Davos) keine Ortsnamen, beschreibt das Gelände nur vage, schließlich irrlichtert er mit seinem Protagonisten durch Raum und Zeit.
Über das Sanatorium, das schon damals dort oben stand und noch heute als Hotel Schatzalp groß und mächtig die Landschaft dominiert, verliert er im Schneekapitel kein Wort, obwohl der Jugendstilbau der Bezugspunkt ist, bei gutem Wetter ein von fast allen Seiten gut zu sehender Orientierungspunkt mit wehenden Schweizer Fahnen auf dem Dach. Thomas Mann ignorierte diesen Umstand aus gutem Grund: Es hätte der Logik seines Romans widersprochen. Neunmal erwähnt er die Schatzalp im "Zauberberg" und macht klar, dass sie real existiert und somit nicht das fiktive "Internationale Sanatorium Berghof" sein kann, in dem Castorp ein Zimmer hat. Das befindet sich unten in Davos und macht viele Anleihen beim "Sanatorium Schatzalp".
"Ich glaube, Castorp ist nach Südwesten gegangen", sagt Hoteldirektor Bernardo. Er ist selbst oft mit Tourenski unterwegs. Im Schneekapitel tobt erst ein Sturm aus Südwest, der sich dann "launisch" dreht. "Typischerweise haben wir hier Ostwind", so Bernardo. Der Baumbestand auf der Schatzalp sei sehr alt, "das hat damals vermutlich so ausgesehen wie heute". Es klingt wie ein Startsignal für die Castorp-Tour durch den Aprilschnee.
4. Schnee
Dass die Wintersaison vorbei ist, heißt nicht, dass der Winter vorbei ist. Es hat gerade wieder begonnen zu schneien, Wolken ziehen aus dem Tal herauf und vernebeln die Welt. Es ist wider Erwarten recht nah an dem, was Hans Castorp im Roman erlebt. Man hatte mir geraten, die Tourenski zu Hause zu lassen. "Packen Sie besser die Wanderstiefel ein", sagte mir eine Dame von der Schneesportschule in Davos. Aber damit lag sie falsch, wie ich schon bei den ersten knirschenden Schritten im Schnee merke. Ich sinke immer wieder tief ein, sodass der Schnee über den Stiefelschaft fällt. Vom Hotel aus geht es nach links, nach Südwesten, auf einem Wanderweg durch den Wald zum "Thomas-Mann-Platz", einer kleinen Lichtung an der Brücke über den Guggenbach. Wie auf ein geheimes Kommando bricht die Sonne durch die Wolken, das heißt, nein, nicht ganz, ein letzter Wolkenschleier verdeckt sie, und das macht die Stimmung noch magischer, verwandelt die Bergwelt in ein weißblendendes, vernebeltes Gerhard-Richter-Gemälde. Als würde sich die Wirklichkeit aus dem Staub machen wollen. Castorps Tour ist hier auch nicht nachvollziehbar. Nach der Brücke wird der Wald dicht und das Gelände steil, kein Mensch würde auf die Idee kommen, sich da auf Tourenski hinaufzuquälen, nicht mal Hans Castorp. Es passt auch nicht zu der eher offen beschriebenen Landschaft: Er "trieb sich gemächlich dort oben, zweitausend Meter hoch entführt, auf schimmernden Schrägflächen von Puderschnee herum, die bei sichtigem Wetter einen hehren Weitblick über die Landschaft seiner Abenteuer boten".
Er muss also nach rechts, nach Nordosten gegangen sein. Also zurück zum Hotel, vorbei an der Bergstation der Standseilbahn, vorbei am alten Gondelgebäude. Auf einem Wanderweg Richtung Strelaalp weisen rote Schneestangen den Weg, ganz so wie im "Zauberberg"! Hier befindet sich das Skigebiet, das zur Schatzalp gehört, das es aber erst seit 1937 gibt. Heute heißt es "Slowmountain", ein genial gewählter Name: ein entschleunigter Berg, in einem literarisch verewigten Raum, in dem die Zeit verschwimmt. Wie eine Chimäre fährt eine Pistenraupe unter dem geschlossenen Sessellift hindurch und verschwindet hinter einem Schober. Sonnenstrahlen erwärmen die Bergwelt, es taut und plätschert und tropft in unregelmäßigem Takt und ist schnell wieder zu warm. Die Jahreszeiten jagen sich in diesen Tagen gegenseitig.
Das Gelände passt nun besser zu den Beschreibungen, wo von "Schrägen", "Ebenen", einer "Dünenlandschaft" und hervorstehenden Latschenbüschen die Rede ist. "Er schob sich weiter, höher hinauf, gegen den Himmel. Manchmal stieß er das obere Ende seines Skistockes in den Schnee und sah zu, wie blaues Licht aus der Tiefe des Loches dem Stabe nachstürzte, wenn er ihn herauszog."
Weiter oben quert der Weg die Piste, und hinter einer Kurve begrenzt die Schiabachschlucht das Gelände. Dass Castorp dort hinuntergefahren ist, das ist noch unwahrscheinlicher als auf der anderen Seite. Es ist ein steil abfallender, dicht bewaldeter und undurchdringlicher Abhang. Das Ganze muss sich also auf dem Plateau oberhalb der Schatzalp, also in etwa auf der heutigen Skipiste abgespielt haben. Und das ist durchaus plausibel. "Die Beine bepudert, stöckelte er sich irgendwo bleiche Höhen hinan, deren Lakengebreite sich in Terrassen absatzweise erhoben", schreibt Thomas Mann und schildert Castorps Abenteuer wie eine tagesfüllende Extremtour. Aber am Ende stellt sich heraus, dass sich das Zivilisationskind das meiste davon nur eingebildet hat. Er fährt auf und ab, dann "unversehens" in eine Schlucht, aber diese "Schlucht" ist mithin nur eine Geländesenkung gewesen und Castorp nur zwei Stunden unterwegs. Auch ohne Ski, denke ich mir, sollte ich in zwei Stunden hinauf zur Bergstation des Sessellifts, auf der anderen Seite wieder hinunter und durch den Wald zurück zum Hotel kommen. Aber da hatte ich die Rechnung ohne den Sommerwinter gemacht.
Denn der macht nun plötzlich Ernst. Von der Sonne ist keine Spur mehr zu sehen, stattdessen fällt die Temperatur mit einem Mal empfindlich, der Nordostwind bläst mir ins Gesicht, und grobe Schneeflocken schlagen geräuschvoll auf die Kapuze, immer schneller. Im Gestöber sind nur noch Schemen zu erkennen, Bäume links, ein paar Felsen rechts, vielleicht jene "verschneiten Felshügel" aus dem Text?
Mit meinen Wanderstiefeln sinke ich bis zu den Knien im Schnee ein, einmal sogar bis zu den Oberschenkeln. Auch im Roman fallen immer mehr Schneeflocken: "Hans Castorp trat vor, um ein paar davon auf seinen Ärmel fallen zu lassen und sie mit den Kenneraugen des Liebhaberforschers zu betrachten. Sie schienen formlose Fetzchen, aber er hatte mehr als einmal ihresgleichen unter seiner guten Linse gehabt und wußte wohl, aus was für zierlichst genauen kleinen Kostbarkeiten sie sich zusammensetzten, Kleinodien, Ordenssternen, Brillantagraffen, wie der getreueste Juwelier sie nicht reicher und minuziöser hätte herstellen können (. . .) - und unter den Myriaden von Zaubersternchen in ihrer untersichtigen, dem Menschenauge nicht zugedachten, heimlichen Kleinpracht war nicht eines dem anderen gleich." Das Wetter wird immer ungemütlicher: "Die Flocken flogen ihm massenweise ins Gesicht und schmolzen dort, so daß es erstarrte. Sie flogen ihm in den Mund, wo sie mit schwach wässrigem Geschmack zergingen, flogen gegen seine Lider, die sich krampfhaft schlossen, überschwemmten die Augen und verhinderten jede Ausschau." Thomas Mann zelebriert den Winter und die Sprache: "Es war das Nichts, das weiße, wirbelnde Nichts, worein er blickte, wenn er sich zwang zu sehen. Und nur zuweilen tauchten gespenstische Schatten der Erscheinungswelt darin auf: ein Latschenbusch, eine Fichtengruppe, die schwache Silhouette des Schobers auch, an dem er kürzlich vorübergekommen." Und, unvergesslich: "Blödsinnig, regelmäßige Kristallometrie" bedeckt ihn.
5. Exkurs über den Zeitsinn
Um 16 Uhr erreiche ich im dichten Schneegestöber die Bergstation. Die Uhr am Lifthäuschen steht auf 14.30, ist offenbar stehen geblieben und scheint jedem Neuankömmling suggerieren zu wollen, dass alles in bester Ordnung sei und noch genug Zeit bleibe, um heil ins Tal zu kommen. Dann öffnet sich der Vorhang unvermittelt wieder, und das Hotel schält sich aus den Wolken heraus, dann Davos, dann links und rechts die beiden Schluchten, die Castorps Bewegungsradius eingrenzen. Alles ist erstaunlich nah und gut überschaubar und macht deutlich, wie schnell man im Schneegestöber die Orientierung verlieren kann. Links erhebt sich über der Schlucht der Ausläufer des Großen Schia, eine steile Felsflanke mit Lawinenfangzäunen durchsetzt. An jenem schneereichen Tag, den Thomas Mann beschreibt, hätte hier auch eine große Lawine abgehen und Hans Castorp begraben können, dann wäre der Roman allerdings nach 640 Seiten zu Ende gewesen.
Höchste Zeit für den Rückweg. Der führt in einem großen Bogen nach Südwesten, Richtung Wald und Guggenbach. Die Oberfläche wechselt von Schnee zu Matsch, zu knackenden Eispanzern. Die Schneeflocken schlagen wieder von hinten an die Kapuze. Castorp verirrt sich - und das könnte hier gewesen sein. Der Weg beschreibt einen Bogen am Wald entlang und führt dann nach Nordosten, der Wind bläst nun ins Gesicht. "Rechts seitwärts in einiger Entfernung nebelte Wald. Er wandte sich dorthin, um ein irdisches Ziel vor Augen zu haben, statt weißlicher Transzendenz, und fuhr plötzlich ab, ohne daß er im geringsten eine Geländesenkung hatte kommen sehen", heißt es im "Zauberberg". Auch 100 Jahre nach Erscheinen des Buches kann man hier wirklich vortrefflich im Kreis gehen. Und es bleibt dabei immer 14.30 Uhr.
So geht es auch dem armen Castorp, er verliert die Orientierung, "beschreibt dabei irgendeinen weiten, albernen Bogen, der in sich selber zurückführte wie der vexatorische Jahreslauf". An der Hütte, "ein Holzhäuschen, Heuschober oder Almhütte mit steinbeschwertem Dache", setzt er sich, raucht eine Zigarette, bricht wieder auf und landet nach einiger Zeit des vermeintlichen Geradeausgehens und -fahrens wieder dort. Diesmal trinkt er Portwein, sinkt resigniert nieder und verfällt in einen halluzinatorischen Schlaf. Wo ist diese Hütte? Gibt es sie heute nicht mehr? Oder hat es sie nie gegeben? Es stehen etwa zehn kleinere Schober auf der Schatzalp, keiner von ihnen hat ein mit Steinen beschwertes Dach. Das kann sich aber geändert haben. Die Strelahütte selbst gab es damals noch nicht. Ist es die Hütte oberhalb der Strelaalp? Oder jene unter der Talstation des Sessellifts, am Waldrand, die hat sogar eine Hausnummer. Strelapassstraße 903, eine verschließbare Türe, wie Thomas Mann schreibt - das passt auch sonst gut ins Bild. Auch eine Textstelle, die mir bislang rätselhaft erschien, ergibt von hier aus betrachtet Sinn. "Vor dem Feld mit der Sennhütte" war er "in eine ziemlich tiefe, von rechts nach links abfallende Schlucht hinabgefahren". Von den Bäumen fällt Schnee, und Vögel zwitschern aus den Zweigen. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist.
6. Forschungen
Thomas Mann war 1912 im Mai und Juni in Davos, und Schnee, so viel ist verbürgt, gab es damals keinen mehr. Hat er sich das alles nur ausgedacht? "Hat er nicht", sagt Astrid Schneider von der Dokumentationsbibliothek am nächsten Vormittag unten in Davos. Sie befindet sich in dem viktorianischen Gebäude der ehemaligen "English Library", einst mit fast 6000 Bänden die größte englischsprachige Bibliothek auf dem europäischen Festland. Astrid Schneiders Erklärung ist simpel: Thomas Mann war zweimal in Davos. Einmal im Frühsommer 1912, da besuchte er seine Frau Katja im Waldsanatorium, das zweite Mal im Februar 1921, allein. Einmal im aufkeimenden Sommer, einmal im tiefen Winter. Erst der zweite Besuch hat ihn zu einem Schneekapitel im "Zbg." inspiriert, wie in seinem Tagebuch unschwer nachzuvollziehen ist: ". . . ins verschneite Hochgebirge hinauf und hinein. Traumhaft. Traumhaft dann der Aufenthalt in der lange vergeistigten Wirklichkeit." Am 2. Februar ist er auf der Schatzalp und notiert: "Kalter Föhn. Aufstieg bis über 2000 M. Schwärze des blauen Himmels auf der Westseite. Beim Abstieg heftig hingefallen."
Alles ist genau verzeichnet in den "Davoser Blaettern", in großen schwarzen Büchern gebunden. In No. 18, 19 und 20 des "41. Jahrg." ist der Schriftsteller in der "Fremden-Liste" im "Waldsanatorium Dr. Jessen" registriert: "Frau Thomas Mann, München" und ein paar Zeilen später "Herr Thomas Mann, München". Sie stehen zwischen rund 800 weiteren Ankömmlingen aus New Orleans, Berlin und Paris, Baku, Wien und Stuttgart, aus Sankt Petersburg, Athen und Rio, aus Bilbao, Konstantinopel und Liverpool. Und noch Dutzenden anderen Orte auf der ganzen Welt. 1912 kamen insgesamt 13.547 Gäste nach Davos. Es war die Hochzeit des Kurtourismus.
Die "Davoser Blaetter" berichteten damals vom "systematischen Studium des Licht- und Luftklimas", zeigten ein sommerliches Bild vom Davoser See und stellten fest, dass "nach der andauernden Regenperiode der volle Sommer in unserem Hochtal eingerückt" ist, die "Schweizerisch Amtliche Meteorologische Station Davos" registrierte 17,5 Grad als Maximum. Dennoch muss Thomas Mann schon damals eine Ahnung von der Wucht des Winters in Davos bekommen haben. Die Höhen waren noch immer schneebedeckt, und die Überschrift einer Meldung auf der nächsten Seite lautete "Die große Lawine". Im Dischmatal sei am vergangenen Sonntag eine große Lawine "zu Tal gefahren und zwar in einer Größe und Ausdehnung, wie man sie seit Menschengedenken nicht mehr erinnert".
Aber wie sich der Winter in Davos anfühlt, hat Thomas Mann erst neun Jahre später erfahren. "Die weiße Stadt" lautete die Überschrift des Textes auf der Seite 1, von "meterhohen Schneewänden" ist da die Rede. "Goldener Sonnenschein bricht sich glitzernd im pulvrigen Schnee", heißt es, fast als wäre es dem Schneekapitel entnommen. Und auch eine Empfehlung bekommen die Leser: "Bequemster Zielpunkt ist die Schatzalp mit ihrem umfassenden Rundblick." Ob Thomas Mann dieser Empfehlung gefolgt ist, ist leider nicht bekannt. Auf der Schatzalp gibt es keine Gästebücher aus jener Zeit, und übernachtet hat Mann im Curhaus in Davos, dort, wo er am 1. Februar 1921 abends um Viertel nach acht einen Vortrag gehalten hat.
Thomas Mann war fasziniert vom Winter - und vom Wintersport. Es gibt ein Foto aus dem Jahr 1929, das ihn zusammen mit Hermann Hesse zeigt. Sie stehen im Schnee, Hesse auf Holzski und mit Stöcken, Mann daneben, ohne Ski, in Kniebundhosen, Schnürstiefeln, weißen Strickstrümpfen und breitem Schal - und schauen tollkühn in die Kamera. Ihr Blick sagt: Seht her, auch zwei Literaturnobelpreisträger können sportlich sein! Auch wenn Thomas Mann kein Sportler war, hat er sich das alles sehr genau angesehen, hat einen in Davos entstandenen Skitouren-Text von Sir Arthur Conan Doyle gelesen und auch den Text von Fridtjof Nansen, der kurz zuvor auf Ski Grönland durchquert und den Skihype in Europa ausgelöst hatte. Das alles ist später in den "Zauberberg" eingeflossen.
Während der Lektüre hat es draußen wieder begonnen zu schneien. Vor dem Fenster fällt der Schnee in Centstück großen Flocken herab, als hätte jemand eine Schneekugel geschüttelt. Man möchte nicht glauben, dass die Wintersaison vorbei sein soll.
7. Veränderungen
1921 war Thomas Mann vom Kurverein eingeladen worden, und seine Anwesenheit wurde zelebriert. Das sollte drei Jahre später ganz anders sein. Denn Davos befand sich im Wandel. Noch vor einigen Jahren bewarb man dort das Siechtum mit dem Spruch "Davos, das neue Mekka der Schwindsüchtigen". Das muss man sich auch erst mal trauen. Doch in den Zwanzigerjahren waren die Goldenen Jahre des Kurtourismus vorbei, viele Gäste kamen nicht wieder. Davos brauchte eine neue Perspektive, und so entschied die Davoser Hotel- und Sanatorienbranche, sich vom Kurgeschäft abzuwenden und fortan auf Wintersport zu setzen. "Der Weg zur Kraft u. Gesundheit führt über Davos" lautete der neue Slogan, und aus dem "Kurort Davos" wurde die "Sonnenstadt im Hochgebirge". Und dann erschien 1924 "Der Zauberberg" und zelebrierte auf 1000 Seiten diese alte Welt, von der man sich distanzieren wollte. Was für ein Timing. Den Davosern passte das natürlich gar nicht ins Konzept, und man war empört über diesen skandalösen Roman. In Thomas Manns Hofrat Behrens war unschwer die Verunglimpfung des hoch angesehenen Dr. Friedrich Jessen zu erkennen. Ein anderer prominenter Arzt, Dr. Karl Turban, wollte Thomas Mann verklagen. Jessen jedoch sah davon ab. Da habe man keine Chance, weil Thomas Mann mit seinen Formulierungskünsten weit überlegen sei. Turban hoffte und schrieb: "Dieser Sensationsroman, ein trübes Destillat einer trüben Zeit, hat bei Ärzten und Tuberkulosekranken Schaden angerichtet, wird aber bald vergessen sein."
Katia Mann schrieb in ihren Memoiren: "Der Zauberberg hat die Davoser sehr geärgert. Das Buch hat in Davos Anstoß erregt, weil es den Anschein erweckte, als ob die jungen Leute aus reichen Familien, eingefangen von der Atmosphäre des Sanatoriums und den Annehmlichkeiten dieser Existenz, festgehalten würden, wo sie schon nicht mehr so krank waren, und nur wegen des Geschäftlichen und der Ungebundenheit viel länger blieben, als sie eigentlich mußten." Vier Jahre nach dem Erscheinen des "Zauberbergs", der sich nun bereits 100.000 Mal verkauft hatte, wurden die Olympischen Winterspiele, die man auch gerne in Davos gehabt hätte, an St. Moritz vergeben. Für viele waren es wieder Thomas Mann und sein vermaledeiter Roman, die daran schuld waren. Es gibt ein Protokoll des Großen Landrats der Gemeinde vom Februar 1927. Durch den "Zauberberg" sei Davos "als Krankenort verschrien", heißt es da. Und: "Wer nach Davos gehe, werde als krank im letzten Stadium angesehen."
8. Der große Stumpfsinn
Das ist lange her, 100 Jahre, um genau zu sein, und von der einstigen Kritik ist nichts geblieben. "Der Zauberberg" verkaufte sich weiter, wurde in 27 Sprachen übersetzt, Thomas Mann bekam 1929 den Nobelpreis und Davos seinen Platz in der Weltliteratur. Zum Jubiläum wird es Lesungen, Vorträge, Diskussionen, Thomas-Mann-Tage und ein Filmfestival geben.
Oben auf der Schatzalp beginnt es wieder zu schneien, als ich von der Hütte mit der Nummer 903 mit nasskalten Füßen zurück zum Hotel stapfe. Die Flocken wirbeln vom Tal herauf, und ich frage mich, wann der Winter vorbei sein mag. Das hat sich vermutlich auch Hans Castorp gefragt, als er, "das Sorgenkinde des Lebens", vor dem Schober im Schnee liegend, wild halluzinierend, dem Erfrierungstod nur knapp entgangen war. Und einsieht, dass sein Fluchtversuch kläglich gescheitert war. Oder vielmehr: Sich gar nicht mehr entsinnen kann, dass es überhaupt ein Fluchtversuch war, als hätte der Schnee alles unter sich begraben. Der letzte Satz des Schneekapitels lautet: "Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so recht."
Der Fischer-Verlag hat den "Zauberberg" von Thomas Mann zum hundertjährigen Jubiläum in einer Sonderausgabe für 58 Euro neu aufgelegt, das Taschenbuch in der Textfassung der "Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe" Thomas Manns kostet 22 Euro (beide 1120 Seiten lang).
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