Besprechung vom 07.07.2020
Schön bewegen sich die Spieler im Ideengestöber
Mitreißende Massen: Hans Ulrich Gumbrecht versucht sich über das Erleben auf den Rängen von Sportstadien klarzuwerden.
Santiago de Chile im Mai 2013. Hans Ulrich Gumbrecht sitzt in einer Bar und verfolgt das Champions-League-Finale zwischen Bayern München und Borussia Dortmund. Nach dem Ausgleich des BVB spendiert er Freunden und Unbekannten ein paar Drinks, die er, als Arjen Robben in der neunundachtzigsten Minute das Spiel entscheidet, direkt wieder vom Tisch fegt. Offenbar kein Ausrutscher: Der emeritierte Literaturwissenschaftler aus Stanford bekennt, es stimme ihn so verdrießlich, wenn das Football-Team seiner Universität gegen die Mannschaft aus Berkeley verliert, dass er sich bemühen muss, die Fans des Gegners nicht zu provozieren. Zwischen Reiz und Reaktion fehlt offenbar ein Puffer - und das führt direkt ins Zentrum von Gumbrechts Verständnis eines intensiven Lebens.
Seit er vor sechzehn Jahren das Bändchen "Diesseits der Hermeneutik" vorgelegt hat, kreisen seine Überlegungen um den Gegensatz zwischen unmittelbarer Wahrnehmung und Denken. Wer Gänsehaut angesichts einer Landschaft oder eines Texts, eines Fußballspiels oder eines Musikstücks bekommt, wird diese Erfahrung für gewöhnlich nur mit Abstrichen in Worte bringen können. Die Überwältigung ereignet sich vorreflexiv. Sie zu interpretieren mag einer gängigen Auffassung zufolge das Handwerk des Akademikers sein, nicht jedoch des empfindsamen Feingeists. Gumbrecht ist beides: ein Mann des Wortes, der sich gerne mitreißen lässt. Kunst oder Sport sieht er nicht ausreichend gewürdigt, wenn sie auf Sinn ohne Sinnlichkeit reduziert werden. Deswegen pocht er auf Kategorien wie "Präsenz" und "Materialität".
In "Crowds" nähert sich Gumbrecht seinem Thema abermals über den Körper: Es schmerze ihn "im wörtlichen Sinn", an legendären Stadien vorbeizufahren, die er noch nicht kennt - zu groß das Verlangen, einen Blick hineinzuwerfen, zu verlockend der Reiz, sich auf den Rängen wichtige Momente vergangener Spiele zu vergegenwärtigen. Mit solchen Anekdoten, die um persönliche Neigungen kreisen, pirscht sich Gumbrecht an die Ursachen für die Faszination von Stadien und Menschenmassen heran. Dass er dabei oft ins Atmosphärische abrutscht, wird ihm, der in einer Monographie von 2011 die "verdeckte Wirklichkeit der Literatur" in Stimmungen zu finden glaubte, nicht versehentlich unterlaufen sein. Über die Situation nach einem Fußballspiel im Westfalenstadion heißt es: "Mit einer matten Wärme scheint das Licht noch, statt der Spieler in schöner Bewegung stehen am Rand des Spielfelds drei oder vier Angestellte, die den Rasen reparieren."
Die Zeiten, in denen der Autor mit gründlichen Begriffsgeschichten von sich reden machte, sind lange vorbei. Nun setzt er auf die Intuition: Wenn ich zwischen Zehntausenden feiernden Menschen Wonne empfinde, ist es gewiss lohnend, nach dem Ursprung dieses körperlich erfahrbaren Zustands zu fahnden. So gerät der Alltag zum Stichwortgeber von Forschungsrichtungen.
Gumbrecht konturiert sein Thema, indem er den Zusammenhang von Intensität - inzwischen so etwas wie ein Ideal des modernen Lebens - und Menschenmeer hervorhebt, denn im Stadion gehören wir mit unseren Körpern zu einer "Masse und werden in ihr Teil eines Verhältnisses zu anderen Körpern, das zunächst gar nichts mit gemeinsamen Interessen, mit Solidarität oder mit Konsensus zu tun hat, sondern eben nur mit Körpern". In der VIP-Lounge, wo gesnackt und geredet wird, könne sich dieses Erleben nicht einstellen. Es fehle insgesamt an einem Diskurs über Masse und Glücksmomente, was Skeptikern wie Gustave Le Bon, José Ortega y Gasset und Elias Canetti zu verdanken sei.
In der Masse befinden wir uns laut Gumbrecht im Angesicht "ungeahnter Möglichkeiten unserer Existenz". Erläuterung: Man fühle sich auf besondere Weise einsam, konzentriert oder ekstatisch. So kann es einem allerdings auch beim Wandern, Tauchen oder im Kino gehen. Immer wieder betont der Autor, bloß nicht geistreich sein zu wollen, immer wieder ist er dafür kokett und bemüht provokant: Flankiert von Gedanken Judith Butlers und mit Blick auf die Gewaltbereitschaft mancher Fußballfans, lässt er sich etwa zu der These hinreißen, die Masse habe aufgrund ihrer physischen Präsenz ein "Recht auf Rechte", und dies "könnte im Kontext der Spannung zwischen dem Deutschen Fußball-Bund und den Ultras relevant werden - und zwar zugunsten der Ultras, sobald man den Raum eines Stadions als öffentlichen Raum und nicht als Besitz eines Clubs und Unternehmens ansieht".
Im Laufe des mal tastenden, dann wieder sprunghaft-assoziativen Essays tanzt ein heterogenes Ensemble aus Figuren und Kategorien nach der Pfeife des Autors, stets zur Stelle, wenn eine Begründungslücke gefüllt werden muss. Maradona und Nietzsche, Evita Perón und Caligula, Freud und die Tiller Girls, Schwarmverhalten und Primatenforschung, Moses und Hitler, Latenz und Ereignis - alles interessant, alles im Hauruckverfahren wegmoderiert. Was etwa ein Ereignis überhaupt ist, ob es mit einer Zustandsveränderung, Distanz zum Alltag und einem bestimmten Maß an Irreversibilität zu tun hat, darüber erfahren wir nichts.
In einem zentralen Kapitel geht es um Spiegelneuronen, also jene Nervenzellen im Gehirn, die uns zu mitfühlenden Wesen machen. Es könne, so der Verdacht, die "mittels Spiegel-Neuronen multiplizierte Wahrnehmung spezieller Bewegungen auf dem Spielfeld durch viele Zuschauer in transitiver Aufmerksamkeit . . . zu Explosionen von Intensität führen". Das könnte in der Tat so sein. Genauso gut könnte es aber auch nicht so sein. Die Bemerkung, empirische Untersuchungen müssten dies erhellen, weist ebenso auf Gumbrechts argumentative Unsicherheit wie seine Satzanfänge: "Vielleicht erklärt ja . . .", "Vielleicht ist dies der Grund . . ." Dass er von Gattungen spricht, aber Arten meint, ist dagegen ein zu verschmerzender Lapsus.
Kühner mutet die These an, alle Lebewesen, die nicht an einen Ort gebunden sind, würden sich grundsätzlich oder gelegentlich in Schwärmen konstituieren. Da fragt sich etwa, was denn einen Ort überhaupt ausmacht: Ist ein Baum ein Ort? Oder eine Lichtung? Oder erst der ganze Wald? Gibt es Eichhörnchen- und Tigerschwärme? So einnehmend der Professor als Sportfan und naturwissenschaftlich interessierter Essayist erscheint: Sein Ideengestöber hat einer sorgfältigen Analyse nichts entgegenzusetzen.
KAI SPANKE
Hans Ulrich Gumbrecht: "Crowds". Das Stadion als Ritual von Intensität.
Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2020.
154 S., br.
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