Besprechung vom 11.08.2023
"Ich bin nicht der Polizist meiner Musik"
Ohne Posen: Der Komponist Wolfgang Rihm und der Philosoph Peter Trawny sprechen über Freiheit
Das musikalische Hören ist zwar durch Bildung und Erfahrung formbar, aber zunächst eine individuelle Begabung. Dabei spielt nicht nur das Vermögen der Verortung und der Bestimmung von "etwas als etwas" - die Auslegungstätigkeit der sinnlichen Wahrnehmung - eine Rolle, sondern auch die leib-seelische Ansprechbarkeit, die Resonanz des Gehörten in den anderen Sinnen, im ganzen Körper. Wer sich dem Anfang von Wolfgang Rihms Orchesterwerk "Vers une symphonie fleuve III" überlässt, kann bei entsprechender Empfänglichkeit geradezu Saug- und Schürfimpulse der tiefen Klarinettentöne auf der eigenen Haut spüren. Es ist Musik, in Dunkel gehüllt, die Wärme spendet und zugleich Schmerz zufügt: leise, im körperlichen Nahfeld hörend ausgelöster Angstlust.
Das Hören von Musik, schreibt der Philosoph und Heidegger-Herausgeber Peter Trawny, sei eine Beanspruchung des ganzen Körpers. Er darf sich darin einig wissen mit Rihm, der sich in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 11. März 2022) überzeugt davon zeigte, dass Proportionen musikalischer Werke biologischen Organismen ähnlich seien und dass sich sogar stilistische Eigenheiten und Krankheiten strukturell in bestimmten Proportionen der Werke niederschlagen.
Fasziniert von eigenen Erfahrungen beim Hören von Rihms Musik, suchte Trawny das direkte Gespräch mit dem Komponisten und gab die Schriftform dieses Dialogs als Buch heraus. In diesen Gesprächen bekräftigt Rihm, von einer schweren Krebserkrankung gezeichnet, nicht nur die Beteiligung des Körpers am Hören, sondern vor allem am Schreiben von Musik. Zunächst ganz grundsätzlich: Schreiben heißt für Rihm, mit der Hand zu schreiben, eine Spur der Tinte auf dem Papier zu hinterlassen. Aber Rihm geht im Gespräch weiter oder, wenn man so will, tiefer und behauptet, "dass da eine Substanz ist, eine Stofflichkeit auch, die mich ausfüllt und von der ich immer wieder Teile preisgebe. Ich kalbe sozusagen. Wie ein Gletscher."
Weit weg vom technischen Vokabular des Handwerks, aber auch vom Jargon akademischer Ästhetik führen der Philosoph und der Künstler Gespräche über Wachstum, Offenheit und Freiheit, die auch das Biographische, Lebenspraktische streifen: dass Rihm das Glück hatte, mit Eltern groß zu werden, die der Musik, auch seiner Musik, "unaggressiv" gegenüberstanden; dass es Musikerhaushalte gibt, in denen Kinder vor lauter Vorschriften und Geschmacksverdikten ertauben und erblinden, wohingegen Rihm versucht habe, seinen eigenen Kindern immer die Freiheit zu lassen, zu nehmen, was sie brauchten. Genauso wenig sei Rihm an der "Unterwerfung des Hörens" unter seine eigenen Absichten interessiert und behauptet auch hinsichtlich des Umgangs mit seinen Interpreten: "Ich bin nicht der Polizist meiner Musik."
Zu Rihms Begabung gehört, wie er klarsichtig beschreibt, früh gewusst zu haben, wer er sei und wo er hingehöre. "Ich neige nicht dazu, mich am falschen Ort zu fühlen", sagt er und ergänzt: "Dieser Scheinzirkus, der uns ja auch medial vorgeführt wird, mit einem Personal, das die Bezeichnung 'Prominenz' trägt und was letztlich nur eine Abfolge von Lachnummern ist, ein grauenvolles Nichts, was sich da aufführt, das ist der Ausgangspunkt für viele tragische Lebenssituationen, wo die Leute sagen: Wenn ich jetzt nicht hier sein müsste, sondern dort wäre, dann wäre alles viel besser."
Zu Rihms Begabung gehören auch seine Physis im Sinne überragender Körpergröße, die ihm Durchsetzungskraft verleiht, und eine "Artikulationsfähigkeit", die vielfach Neid auslöste. Wer erlebt hat, wie Rihm über Musik sprechen kann, wer seine Essays liest (die er weniger gern schreibt als Musik), weiß um diese Gabe eigener Sprache. Trawny bemerkt sie, wenn er sagt: "Sie haben die Kraft, die Dinge so zu sagen, als beginnen sie gerade, also ohne an gottweißwelche Diskurse anzuknüpfen. Sie zitieren nicht . . ." - Rihm wirft listig ein: "Luhmann" -, "sondern all das kommt ganz und gar von Ihnen her von Anfang an."
Man spürt im Gespräch Rihms Widerstände gegen alles Redensartliche. Das "Spirituelle" erscheint ihm als "wahnsinnig hochstaplerisch". Das Schwadronieren über Einsamkeit empfindet er als "geäffte Pose" und kontert: "Dialog kann der Kunst guttun." Und mit der bei Nichtmusikern so beliebten Tiefe-Verheißung von "Stille" braucht man Rihm gar nicht erst zu kommen. Jeder Versuchung zur Metaphysik tritt Rihm hier mit künstlerischer Pragmatik entgegen: "Stille ist ein Spezialfall. Es gibt ja keine ungefärbte Stille. Sie hat immer eine Färbung. Stille hat immer ein Potential von Mitgeteiltem." Also kann Rihm der Idee nichts abgewinnen, dass um die Musik herum eine Art von Ur-Stille herrsche, "weil Musik zu sehr ein Kulturphänomen ist. Musik und Stille rechnet mit dem Erfahrungshorizont, der schon einmal durch Musik und Stille gegeben war. Stille ist ja nicht einfach die Abwesenheit von Ereignis, von Klang-Ereignis." Stille sei immer in einem kulturellen Spannungsraum aus Erfahrung und Erwartung eingebettet.
Mozarts Klavierkonzerte preist Rihm als ein "Evangelium"; Richard Wagners Schrift "Kunst und Revolution" hingegen erscheint ihm als "Trommelfeuer von Behauptungen, ein Sich-In-Stellung-Bringen". Und auch Gustav Mahler gegenüber, der immer "gut vernetzt und machtorientiert" gewesen sei, bleibt Rihm skeptisch: Das sei "höchst bewusste Kunst", in der die Momente des Weinens genau kalkuliert wurden.
Im Gespräch mit Max Nyffeler sagte Rihm schon vor zwanzig Jahren: "Das Können eines Komponisten misst sich wahrscheinlich auch daran, dass er die gemachten Erfahrungen nicht dazu einsetzt, die Dinge zu kodifizieren, zu zementieren und aus dem Lebensstrom herauszuschneiden, sondern dass die Erfahrung ihm dazu dient, weiter zu wünschen." In den Gesprächen mit Trawny begegnet uns Rihm als Künstler, der Schlagworte scheut, weil er weiß, dass in Posen und Parolen das Denken wie das Schaffen gerinnen und sterben. Dem Drängen des Philosophen nach dem zufassenden Wort, dem Begriff, hält Rihm einen unbegreifbaren Rest von Anschauung entgegen, ohne den Kunst nicht wäre, was sie ist. JAN BRACHMANN
Wolfgang Rihm/
Peter Trawny: "Frei".
Zwei Gespräche.
Vittorio Klostermann
Verlag, Frankfurt am Main 2023. 110 S., br.
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