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Besprechung vom 08.03.2022
Die Getriebenen
Eine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts
Was würde man von einer aktuellen, an ein breites Publikum gerichteten Geschichte Palästinas und der Palästinenser erwarten? Vermutlich zweierlei: Zum einen, dass sie die Palästinenser als eigenständige Akteure behandelt und aufscheinen lässt - ihre Geschichte also nicht nur als eine Hälfte des israelisch-palästinensischen Konflikts erzählt. Zum anderen spielt dieser Konflikt aber eine überragende Rolle und dürfte auch das Leserinteresse prägen, was jede Darstellung berücksichtigen muss. Das ist eine Spannung - eine, die produktiv nutzbar gemacht werden kann. Muriel Asseburg hat sich entschieden, fast ausschließlich den zweiten Ansatz zu verfolgen.
Hinterfragen kann man schon die Entscheidung der Autorin, ihre vertiefte Darstellung 1948 einsetzen zu lassen, mit der Staatsgründung Israels und dem Beginn der palästinensischen Geschichte von Flucht, Vertreibung und Exil - der "Nakba" (Katastrophe). Asseburg verweist dabei unter anderem auf Gudrun Krämers "Geschichte Palästinas", die zu diesem Zeitpunkt endet. Zum einen stammt das Buch der Berliner Islamwissenschaftlerin, obwohl es bis heute als Standardwerk gilt, aber von 2002. Seither hat es vielfältige neue Forschung gegeben, vor allem für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es wäre fruchtbar gewesen, diese aufzuarbeiten. Zum anderen sind die Jahrzehnte nach dem Beginn der zionistischen Einwanderung Ende des 19. Jahrhunderts fundamental für das Verständnis sowohl des Konflikts als auch des palästinensischen Nationalismus. Letzteres gesteht die Autorin selbst zu, indem sie ein entsprechendes Kapitel in ihre Darstellung einbaut.
Darin hält sie fest, dass sich die palästinensische Nationalbewegung seit der Wende zum 20. Jahrhundert in steter Interaktion mit externen Faktoren entwickelt habe: Vor 1948 waren das europäische Nationalismen, die osmanische und dann die britische Fremdherrschaft und der Zionismus. Nach 1948 waren vor allem "die Erfahrung von Fremdherrschaft, Exil, Ausgrenzung, Vertreibung und Unterdrückung in Israel und in den arabischen Staaten" prägend für die Identität der Palästinenser. Hier und anderswo im Buch wäre es lohnend gewesen, aus Quellen zu zitieren oder anschauliche Beispiele zu nennen. Das hätte ein plastischeres Bild der Entwicklung des palästinensischen Nationalismus ergeben.
Zu dessen Charakteristika gehört das Beharren auf dem Recht am Land, das sich in den berühmten Schlüsseln einstiger Häuser zeigt, die Flüchtlingsfamilien von 1948 bis heute aufbewahren. Aber auch andere kulturelle Tatbestände, etwa Literatur, Essen oder Kleidung, spielen eine Rolle für die nationale Identität der Palästinenser, die seit Jahrzehnten unter verschiedenen Fremdherrschaften sowie in der Diaspora verstreut leben. An einer Stelle verweist Asseburg auf ein solches Phänomen, als sie beschreibt, wie die Kufiya - das meist schwarz-weiß gemusterte "Palästinensertuch" - während des "Arabischen Aufstands" in den 1930er-Jahren zum nationalen Symbol wurde: Ursprünglich war es eine Kopfbedeckung der männlichen Landbevölkerung. Schließlich sahen sich aber auch die Angehörigen der Oberschicht gezwungen, den osmanischen Fez abzulegen und das bäuerliche Tuch zu tragen, um ihre Solidarität mit den antibritischen Demonstranten zu demonstrieren. Dennoch versagten die Eliten dabei, die palästinensische Gesellschaft zu einen und der gut organisierten zionistischen Bewegung etwas Vergleichbares entgegenzusetzen; das hat die Staatsgründungsambitionen nachhaltig beschädigt.
Es gibt drei Meistererzählungen, die den Palästinensern von außen übergestülpt wurden und werden. Die erste lautet, dass es sie als eigenständiges Volk überhaupt nicht gebe - das zeigt sich bis heute etwa in der in Israel anzutreffenden Gepflogenheit, von "Arabern" zu sprechen, wenn es um Palästinenser geht. Die zweite ist das Bild des terroristischen, fanatischen Palästinensers. Dieses Narrativ wurde nur während der Zeit der ersten Intifada Ende der 1980er-Jahre kurzzeitig abgelöst von einem David-gegen-Goliath-Bild; es hat durch die Anschläge der Hamas in den 1990er-Jahren, aber auch angesichts des globalen islamistischen Terrorismus jedoch längst wieder Oberhand gewonnen. Die dritte Erzählung besagt, dass die Palästinenser Kompromissvorschläge stets ablehnen würden - dass sie sprichwörtlich "nie eine Chance verpassen, eine Chance zu verpassen". Asseburg nennt diese Narrative nicht direkt. Ihre Darstellung der Ereignisgeschichte - die sich an den Wendepunkten Sechstagekrieg, erste und zweite Intifada sowie dazwischen Oslo-Friedensprozess orientiert - schafft aber die Basis dafür, zu verstehen, wie unzulänglich sie sind. So erläutert sie, wie die palästinensische Nationalbewegung sich entwickelte, von der Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in den 1960er-Jahren als Instrument des ägyptischen Präsidenten Nasser über die Zeit internationaler Terroraktionen und innerarabischer Auseinandersetzungen bis zur schrittweisen Abkehr der PLO vom bewaffneten Kampf; diese Strategie ging dann von 2001 an im Gewaltstrudel der zweiten Intifada unter.
Das Scheitern des Friedensprozesses erscheint in Asseburgs Darstellung als praktisch zwangsläufig. Die Vertreter der PLO ließen sich 1993 im Gegenzug zur Anerkennung durch Israel und die Aussicht auf Rückkehr "auf einen Prozess ein, der weder die Besatzung oder die Besiedlung beendete noch die staatliche Unabhängigkeit zumindest als Ziel festhielt". Vielmehr blieb Israel stets am längeren Hebel, und das Besatzungsregime wurde lediglich durch eine "Arbeitsteilung" mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ergänzt; für die Kosten kam die internationale Gemeinschaft auf. Die aus Tunis zurückgekehrte PLO-Riege um Yassir Arafat nutzte die PA, um in den palästinensischen Gebieten ein korruptes, neopatrimoniales System zu etablieren. Weder Israel noch die USA oder die EU verhinderten dies, schreibt Asseburg - sie "ordneten (. . .) das Ziel eines im Inneren demokratischen, rechtsstaatlichen palästinensischen Gemeinwesens eindeutig dem Ziel der Erfüllung des israelischen Sicherheitsbedürfnisses und der Fortführung des Friedensprozesses unter". In der Bevölkerung wurde die PA schon damals immer stärker als "Handlangerin" Israels betrachtet.
Die kritische Auseinandersetzung mit dem Oslo-Prozess gehört zu den stärksten Teilen des Buchs. Die Politologin, die zu den renommiertesten Expertinnen zu Israel und Palästina zählt, kann auf umfangreiche eigene Forschungsarbeiten zurückgreifen. Zugleich bewirkt dies jedoch eine Engführung der Darstellung entlang der bekannten Etappen des Konflikts. Mitunter ist auch eine Tendenz zu erkennen, die palästinensische Seite gegen Vorwürfe zu verteidigen - bei aller Kritik, die Asseburg an der Hamas ebenso wie an der PA/PLO übt. Nach der politischen Spaltung der Palästinenser 2007 haben beide Faktionen autoritäre Herrschaften im Gazastreifen beziehungsweise im Westjordanland errichtet. Seither ist der Konflikt auf palästinensischer wie auf israelischer Seite von Desillusionierung, Gewalt, Blockaden und einseitigen Schritten geprägt. Mit dem Ergebnis, dass es einerseits regelmäßig zu Gewalt kommt - und dass die Palästinenser andererseits nach neuen Wegen suchen, die Besatzung abzuschütteln, etwa die Anerkennung in internationalen Foren oder die Israel-Boykott-Bewegung BDS. Letztere als grundsätzlich antisemitisch zu bewerten, lehnt die Autorin ab. Zugleich konstatiert sie, es gebe "durchaus Schnittmengen zwischen der völkerrechtlichen Definition von Apartheid und der Situation in Israel und den besetzten Gebieten" - hier ist das Buch ganz auf der Höhe der Zeit, wenn man an den kürzlich erschienenen Bericht von Amnesty International denkt, der Israel genau dies vorwirft.
Wie dieser Kampf um Deutungshoheit ausgeht, ist noch nicht entschieden. Asseburgs Ausblick ist düster: Da grundlegende Veränderungen nicht zu erwarten seien, dürften der schrittweise Zusammenbruch des Oslo-Arrangements ebenso wie der Siedlungsbau anhalten, mit weiterer Gewalt sei zu rechnen. Diesem Fazit kann man kaum widersprechen. Es unterstreicht noch einmal einen grundlegenden Zug des Buches: Asseburg wollte die Palästinenser als "Handelnde in ihrer eigenen Geschichte" zeigen. Nach 260 Seiten muss man konstatieren: Sie wirken eher wie getrieben von Umständen, auf die sie nicht viel Einfluss haben. CHRISTIAN MEIER
Muriel Asseburg: Palästina und die Palästinenser. Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart.
C. H. Beck Verlag, München 2021, 365 S.
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