»In der Theorie vielleicht eine gute Idee, versagt nur leider in der Praxis! « Was früher vom Kommunismus gesagt wurde, gilt heute für die Demokratie - sie wirkt zunehmend unglaubwürdig. Veith Selk zeigt in seinem scharf analysierenden Buch, warum sowohl die demokratische Politik als auch die sie begleitenden Demokratietheorien an der Wirklichkeit scheitern. Zwei Thesen werden dabei verfolgt: Der Niedergang der Demokratie ist keiner Regression geschuldet, sondern das Ergebnis der gesellschaftlichen Fortentwicklung. Das damit eingeläutete Ende der Demokratie führt auch zum Verfall der Demokratietheorie, die als akademische Disziplin anachronistisch wird.
Besprechung vom 01.03.2024
Das Ende gleicher Freiheit?
Politisierung als Problem: Veith Selk diagnostiziert auf argumentativ bestechende Weise eine Rückentwicklung der Demokratie.
Untersuchungen über das "Ende der Demokratie" füllen Bibliotheken. Trotzdem dürfte die vorliegende Monographie des Darmstädter Politikwissenschaftlers Veith Selk wegen der Stringenz ihrer Argumentation, der Klarheit ihrer Thesen und ihres beeindruckenden Überblicks keine Probleme damit haben, ihre Existenz zu rechtfertigen. Das Buch ist auf zwei Ebenen in drei Schritten strukturiert, die wie sein Titel an Hegel erinnern sollen: Auf die Darstellung dreier zentraler Ursachen für den Niedergang der Demokratie folgt die Analyse dreier Reaktionsformen des politischen Systems. Diese Entwicklungen nehmen, wie im dritten Schritt dargelegt wird, den drei dominanten Formen der Demokratietheorie ihren Erklärungsanspruch.
Selk zufolge befinden sich westliche Demokratien in einem Zustand der Rückentwicklung, der Devolution, der sich nicht ihren politischen Gegnern verdankt, sondern der Entwicklung moderner Gesellschaften selbst. Diese führt zunächst dazu, dass jedes denkbare Problem politisierbar wird und damit streitig gestellt werden kann. In der zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung erweist sich diese Politisierung aber als zu schlichtes Instrument. Demokratische Politik mit ihren einfachen Unterscheidungen zwischen rechts und links, Mehrheit und Minderheit oder öffentlich und privat kann daran nicht mehr sinnvoll anschließen. Zudem macht die gesellschaftliche Ausdifferenzierung die Verhältnisse undurchsichtig und stört damit die von demokratischer Politik zu unterstellende gleiche politische Urteilsfähigkeit aller Bürger. Zu wenige blicken noch durch und wer zu Recht Durchblick beanspruchen darf, bleibt stets umstritten. Schließlich ist das politik-ökonomische Band zerrissen, das nach dem Zweiten Weltkrieg demokratische Ordnungen zu Sozialstaaten machte, denen es gelang, verschiedenste Arten von Ungleichheit abzubauen.
Auf diese Devolution der Demokratie reagiert das politische System in verschiedenen Formen. Der Rechtsautoritarismus macht sich daran, die Komplexität der Gesellschaft einer neuen Einfachheit der Politik "für das Volk" zu unterwerfen. Dagegen schlagen expertokratische Politikansätze den entgegengesetzten Weg ein, wenn sie diese Komplexität in die politischen Entscheidungsverfahren einbauen wollen. Beide Wege haben aber einen ausschließenden Effekt und können das demokratische Versprechen allgemeiner und gleicher Freiheit nicht halten. Das gilt, so urteilt Selk, auch für alle Versuche, repräsentative Politik durch Formen der Partizipation zu "ergänzen". Was als politische Ermächtigung daherkommt, läuft auf Inklusionsattrappen für wenige hinaus und bleibt politisch irrelevant. Politische Gegner und freundlich gesinnte Reformisten der Demokratie sind damit Symptome desselben Problems.
Scheitert die Demokratie, so scheitert auch ihre Theorie. Demokratietheorie war aus Selks Sicht nie ein rein normativer Entwurf, sondern blieb stets darauf angewiesen, dass sich ihre Modelle plausibel in einer sozialen Realität verankern lassen. Diesen Beweis vermögen die heute herrschenden Demokratietheorien nicht mehr anzutreten. Die radikale Demokratietheorie, die ausdrücklich für eine ergebnisoffene Politisierung aller Institutionen eintritt, krankt schon daran, dass sie sich nur mit linken politischen Ergebnissen identifiziert. Zudem lässt sich von ihren Vorstellungen rein gar nichts in der Realität wiederfinden. Auch die deliberative Demokratietheorie, die politische Selbstbestimmung als einen offenen Austausch guter Gründe versteht, zerschellt an der sozialen Wirklichkeit. Selbst ihr deutscher Hauptprotagonist, Jürgen Habermas, scheint angesichts der Zersplitterung der Medienlandschaft und der Radikalisierung der Debatte nicht mehr daran zu glauben, dass sein Diskursideal verwirklicht werden kann.
So bleibt als dritte kritisierte Theorielinie der Rückzug in einen politischen Liberalismus, der von demokratischen Ordnungen nur noch wenig erwartet, etwa einen gelegentlichen Regierungswechsel oder den Schutz der Bevölkerung vor grausamer Behandlung. Selbst diese dem Verfasser nostalgisch erscheinende Beschränkung auf ein Kernprogramm lässt sich aus seiner Sicht nicht mehr plausibel mit der politischen Gegenwart arrangieren. Zu ungleich ist der Nutzen, den die Bürger aus den hochgehaltenen rechtlichen Garantien ziehen können.
Es gibt kaum einen Einwand gegen den Gedankengang des Buchs, den sein Autor nicht vorweggenommen hätte, entwickelt er doch im Schlusskapitel eine eigene Systematik von argumentativen Gegenstrategien, die er wiederum zu entkräften versucht. Dieser letzte Schritt stört den Dreischritt des Aufbaus, bringt die zuvor dicht und scharfsinnig vorgetragene Argumentation nicht weiter, sondern zeigt nur an, wie fest der Verfasser an die eigenen Thesen glaubt. Sein Buch hat das nicht nötig.
Kritische Nachfragen liegen ohnehin nahe. Die erste betrifft den Status der Empirie in seiner Argumentation. Schließlich misst Selks "Kritik der Demokratietheorie" diese an der Realität. Sein Urteil lautet: Plausibilitätsverlust angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung. Empirie kommt in der Forschung aber zumeist recht kleinteilig daher und stützt deswegen nicht ohne Weiteres die großen Beobachtungen, die im Buch als empirischer Nachweis dienen sollen. Dass die Europäische Union eine Agentin des Neoliberalismus ist, dass die Ungleichheit in Einkommen und Vermögen generell zunimmt, dass westliche Gesellschaften seit dem 11. September 2001 einem repressiven Sicherheitsapparat unterworfen sind - das mag man so, kann es aber auch anders sehen. Empirisch gesichert sind solche stark normativ geprägten Aussagen nicht. Sie werden vom Verfasser noch nicht einmal als strittig ausgewiesen.
Plausibler wäre die Argumentation, zum Zweiten, wenn sie in einen historischen Horizont gestellt worden wäre. Schließlich können wir erst beurteilen, ob es ernsthaft mit demokratischen Ordnungen bergab geht, wenn wir einen Standard demokratischer Normalität historisch verortet haben. Eine historische Einbettung mag von einem so materialreichen Buch zu viel verlangt sein. Aber wer mit Hegels Geschichtsphilosophie schon im Titel seines Buchs spielt, müsste genauer über Anfang und Ende des demokratischen Projekts nachdenken, als der Verfasser es tut. Hätte man vor hundert Jahren, in den frühen 1920ern, relevante Theoretiker und Praktiker nach der Zukunft der liberalen Demokratie gefragt, von Rathenau über Schmitt bis Heller, so hätten sie ihr keine großen Zukunftsaussichten eingeräumt. Schließlich gab es viele attraktiver erscheinende politische Alternativen wie Faschismus und Bolschewismus, die Modernität für sich in Anspruch nahmen. Komplexität und Ausdifferenzierung waren auch damals viel beschworene Phänomene, und epistemische Ungleichheit zeigte sich schon an der Alphabetisierungsrate.
Aus einer solchen Reminiszenz folgt erst einmal nicht mehr als die Mahnung zu methodischer Vorsicht vor zu großen Schlüssen. Doch müsste man das seltsame Auf und Ab der Demokratiegeschichte, die revolutionären Anfänge noch im achtzehnten Jahrhundert, das Gären im global weitgehend undemokratischen neunzehnten Jahrhundert, die Rückschläge im grausamen zwanzigsten Jahrhundert und die Redemokratisierung vieler Teile der Welt nach 1989 in eine Darstellung einbeziehen, die Empirie als Argument und Geschichtsphilosophie als dessen Horizont verwendet. Dann würden sich Phasen der Demokratisierung und Entdemokratisierung zeigen, die nicht dem linearen und global einheitlichen Bild entsprechen, das Selk zeichnet.
Schließlich mag man sich fragen, wie demokratiespezifisch viele von Selks Betrachtungen sind. Wenn der systematische Kern seines Arguments in der zunehmenden Unvereinbarkeit von sozialer Ausdifferenzierung und politischer Gestaltungsmöglichkeit besteht, gilt dies nicht nur für Demokratien. Auch autoritäres Regieren sah schon einmal stabiler aus, als man es heute in Russland, Venezuela oder dem Iran beobachten kann. Erleben wir vielleicht eine Krise des Regierens, nicht nur eine solche der Demokratie?
Diese Zweifel ändern nichts an der herausragenden argumentativen Qualität einer Untersuchung, die der oft anekdotischen Krisenliteratur eine sozialtheoretische Rekonstruktion entgegensetzt. Es gehört zum dunklen Charme des Buches, dass es keine Auswege aus dem Niedergang kennt. Ob das Dämmern der Demokratie einem Sonnenuntergang oder nur einer Gewitterwolke zuzuschreiben ist, vermag Selk mit seinem Instrumentarium jedoch nicht zu beantworten. CHRISTOPH MÖLLERS
Veith Selk: "Demokratiedämmerung". Eine Kritik der Demokratietheorie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
336 S., br.
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