Besprechung vom 13.05.2020
Rollenzuschreibung unerwünscht
Hawaii liegt in Heilbronn: Cihan Acar beschreibt die Rückkehr eines türkischstämmigen Schwaben
Die Orte, in denen die meisten Menschen auf dieser Welt leben, spielen in der Literatur selten eine Rolle. New York, Paris oder Rom meinen wir zu kennen, obwohl wir möglicherweise niemals da gewesen sind. Auch das Landleben erlebt gerade eine literarische Renaissance. Doch von den Klein-, Mittel- und weniger pittoresken Großstädten lesen wir nichts. Immer noch wissen wir wenig über das Leben in Rostock, Gera oder Recklinghausen.
Cihan Acar hat diesen großen Trends nun etwas entgegengesetzt und einen Roman geschrieben, der in Heilbronn spielt. Acar, der 1986 ebendort geboren wurde, hat bereits zwei Bücher veröffentlicht, eines über Hiphop und ein anderes über den Istanbuler Fußballclub Galatasaray. "Hawaii" ist nun sein erster Roman. Der Titel mag viele Menschen auf die falsche Fährte locken, ist damit doch nicht die amerikanische Inselgruppe im Pazifik, sondern ein Viertel der schwäbischen Stadt Heilbronn gemeint: "Ein paar Wohnblocks, dazwischen enge Gassen, kleine Rasenflächen, Gartenstühle aus Plastik, mehrere kahves, eine Bäckerei, eine Moschee, eine Kirche. Eine kleine abgeschlossene Welt im Quadrat, mitten im Industriegebiet." Auf einem Graffito am Eingang dieses Viertels stand einmal "Welcome to Hell", bevor "Hell" durch "Hawaii" ersetzt wurde. Acar, das merkt man gleich, kennt diesen Ort, über den er schreibt, aus eigener Anschauung.
Sein Protagonist Kemal Arslan ist in Heilbronn-Hawaii aufgewachsen. Nach einem Unfall muss er im Alter von nur einundzwanzig Jahren seine noch sehr kurze Profifußballkarriere bei einem türkischen Erstligaverein an den Nagel hängen. Nun ist er zurückgekommen in seine deutsche Heimatstadt und muss sich dort neu orientieren. Dank seiner Fußballerlaufbahn ist Kemal eine lokale Berühmtheit, doch möchte er mit dieser Vergangenheit eigentlich abschließen. Selbst Fußballspiele im Fernsehen kann er kaum mehr anschauen. Während eines langen Wochenendes streift Kemal durch Heilbronn, durch Kneipen, Spielhöllen und Clubs. Er trifft Trinker, Schnösel, Zocker, Ganoven und Neonazis, aber auch alte Bekannte und seine Exfreundin Sina, die als Tochter reicher Eltern im Villenviertel der schwäbischen Stadt aufgewachsen ist.
Es ist ein brüllend heißer Sommer, auf den Straßen wölbt sich der Asphalt, und Heilbronn riecht nach Suppe aus der nahe gelegenen Knorr-Fabrik. Kemal merkt, dass sich während seiner Abwesenheit einiges verändert hat. Sina, die er zurückerobern möchte, hat einen neuen Freund. Und die Stimmung in der Stadt ist aufgeheizt: "Heilbronn, wach auf!", eine neue Bürgerbewegung, hetzt gegen Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund. Am liebsten demonstriert sie in der Straße, in der auch Kemal wohnt, einer Allee, die früher einmal nach Adolf Hitler benannt war. Eine militante Bewegung, die "Kankas", haben sich "Heilbronn, wach auf!" entgegengestellt.
Sie versuchen, mafiöse Strukturen in der türkischen Community zu etablieren und wollen auch Kemal für sich werben. Beide Gruppen sind gewaltbereit und versuchen, bürgerkriegsähnliche Zustände in der Stadt herbeizuführen. Kemal hasst zwar die Nazis, doch kann er auch mit den Kankas nicht viel anfangen. Er weiß nicht, wohin mit sich und wie es weitergehen soll. Die Schule hatte er wegen der Karriere als Fußballer nicht abgeschlossen, der Mann, bei dem ihm sein Vater nun einen Job vermitteln will, stellt sich als Betrüger heraus, der sein Geld auf Kosten anderer macht.
Kemal ist ein junger Mann auf der Suche. Doch er findet nicht, was er sucht - obwohl er seine Heimatstadt in- und auswendig, besser jedenfalls als viele andere kennt und sich in Heilbronn zu Hause fühlt. Für viele gehört er aber trotzdem nicht dazu. Gleich zu Beginn des Romans sitzt Kemal in einer Kneipe, und ein Mann spricht ihn an: "Hör zu, mein Freund. Der Laden hier und du, des passt net." Für die Mitglieder von "Heilbronn, wach auf!" ist Kemal kein Deutscher, kein Heilbronner, kein Individuum, sondern Teil einer Gruppe: einer der Türken, der Kanaken.
Das ist eine Zuschreibung von außen, die nichts mit Kemals eigenem Empfinden zu tun hat, und es ist nur eine von vielen. Die sind nicht immer böse oder ausgrenzend gemeint: Viele Heilbronner sind stolz auf einen Profifußballer aus ihrer Stadt, möchten mit ihm prahlen und ihn auf seine Zeit in der Türkei ansprechen. Nur ist Kemal kein Fußballer mehr und wird es nie wieder sein. Er kann nichts mit all den Rollen anfangen, in denen andere ihn sehen.
Selbst seine Freunde scheuen nicht davor zurück, ihm Attribute zuzuteilen: "Nimm's mir nicht übel, Bruder, aber du musst nicht das Gleiche durchmachen wie wir. Du siehst nicht so richtig türkisch aus, du bist immer so locker und lieb, so was mögen die Deutschen. Und du warst Fußballer, danach sind sie eh verrückt", sagt Hakan, einer von Kemals besten Freunden, der heute für die Kankas kämpft. Er kann nicht verstehen, dass Kemal keinerlei türkischen Nationalstolz verspürt.
Der Grund für Kemals Ruhe und Rastlosigkeit liegt also nicht nur in ihm, sondern auch in dem, was andere aus ihm machen. Welche Folgen diese ständigen Zuschreibungen haben können, beschreibt "Hawaii" treffend. Der Roman zeigt auch, wie alltäglich sie sind. Es lohnt sich, Geschichten wie die von Kemal zu lesen, aus Städten, die wir noch nicht kennen.
ANNA VOLLMER
Cihan Acar: "Hawaii".
Roman.
Hanser Berlin Verlag,
Berlin 2020. 256 S., geb.
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