Besprechung vom 12.07.2024
Über Treppen und Terrassen
Von der Geographie zur Geschichte: Dieter Richter legt einen überaus anregenden Band über die Amalfiküste vor.
Dieter Richters Bändchen über die "Costiera Amalfitana" wirbt eingangs mit dem Foto eines Zitronenbuschs. Zitronen sind ein Sinnbild der Italiensehnsucht im Allgemeinen, aber - der Rezensent schreibt das hier ungeschützt, was denkbare sizilianische und neapolitanische Gegenmeinungen angeht - an der Amalfiküste wachsen eben die besten Zitronen, riesige aromatische Früchte. Lange Zeit taten sie das im Verborgenen. Erst vor hundertfünfzig Jahren wurde der schmale, schroffe Küstenstreifen zwischen Positano und Salerno vollständig auf dem Landweg zugänglich. Am Anfang des Amalfi-Tourismus stehen Reisende wie Mary Wollstonecraft Shelley, die Schöpferin von "Frankenstein". Im Jahre 1843 ließ sich die Schriftstellerin, so steht es bei Richter, mit einer Art Sänfte in das hochgelegene Ravello tragen.
Von solchen unzeitgemäßen Einzelheiten wimmelt es in diesem schmalen Buch. Doch hat es mehr zu bieten als bizarre oder amüsante Entdeckungen. Es lädt zum Nachdenken ein über das Verhältnis von Raum, Kultur und Identität.
Amalfi, Positano, Ravello, Maiori, Minori und Vietri waren nicht immer nur die verschlafenen Nester mit Meerblick, die um 1800 von den Reisenden auf der Grand Tour "entdeckt" und damit dem Massentourismus ausgeliefert wurden. Das Wappen der mittelalterlichen Seerepublik Amalfi (839-1135) ziert heute noch die Flagge der italienischen Kriegsmarine. Es gab amalfitanische Handelskolonien (fondaci, vom arabischen funduq) in Kairo, Aleppo und Byzanz. Um das Jahr 1200 drängten Konkurrenten die Seerepublik zurück, sie wurde abgewickelt. Nachdem die Küste einige Jahrhunderte zum Hotspot der Begegnung von Handel, Handwerk, Architektur und Wissen der europäisch-arabischen Méditerranée geworden war, sank sie zurück auf die Reststufe der klassischen mediterranen Nische: vertikale, nur mühsam kontrollierbare Strukturen, karge Landwirtschaften, Erdbeben, Erosion und Küsten, die eher Hemmnis sind als Tor zur Welt.
Dieter Richter macht das durch eine gewitzte Schilderung der zahllosen Treppen und arabischen Terrassierungen seiner von Erdrutschen und Überflutungen gefährdeten "Katastrophen-Landschaft" nachvollziehbar. Solche naturkatastrophischen Mikro-Ökologien können verkümmern oder Rückzugsgebiete für Flüchtlinge und Banditen werden, um, fast schon aufgegeben, plötzlich neuerlich ihre Reserven zu mobilisieren - und sei es als Zentren des Welttourismus.
In klarem und eingängigem Stil stellt Dieter Richter das historische Auf und Ab der Amalfiküste in den Rahmen einer Geschichte der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Den Niedergang des dreizehnten Jahrhunderts hat die Bevölkerung mithilfe der durch die Seerepublik angereicherten Reserven aufgefangen (Papiermühlen, Produktion von Metallwerkzeugen und Lebensmitteln). Die Rolle als Fluchtort, eingeschrieben in den spätrömischen Gründungsmythos der Gemeinde Amalfi (als Kolonie schiffbrüchiger Römer), die Romantik (Terrassen, verlassene Klöster und maurische Ruinen) und dann die Moderne (Künstlerkolonien nördlicher Dissidenten, Kubisten, Kunsthandwerker und Flüchtlinge) verhilft der Küste zu dem bis heute anhaltenden Boom.
Gezielt setzt Richters Studie bei der Geographie an. Aber es bleibt nicht bei Vignetten zur Vertikalität, Abgelegenheit und Exotik. Wir sehen, wie die lokale Bevölkerung Spieglungen und Eingriffe verarbeitet, Traditionen neu erfindet, Reserven mobilisiert. Die weltberühmte lokale Küche fußt unter anderem auf dem einzigen einigermaßen authentischen Nachfahren des römischen Alltagsgewürzes Garum (fermentierter Fisch), dessen ursprüngliches Rezept verloren ist. Neben der Fischsauce von Cetara und Meeresfrüchten aller Art hat aber auch die eigensinnig an der Orthodoxie der italienischen Küche vorbei verfeinerte Pasta "con patate" daran ihren Anteil. Die in ganz Italien beliebten Schaumrollen werden an der Costiera mit Zitronencreme gefüllt. Schutzpatron von Amalfi ist Sankt Andreas, Flüchtling und Missionar, Verfemter des römischen Imperiums, wie die zahlreichen Verfolgten des Deutschen Reichs, die an der Costiera Amalfitana überlebt haben oder auch nicht, und wie die heutigen Boatpeople.
Seit Jahrzehnten an der Costiera unterwegs, hat Richter tief gestaffeltes Wissen über ihre Geschichte, Kultur und touristischen Schicksale gesammelt und gekonnt zu einem Tableau verwoben. Der Bremer Literaturhistoriker erneuert damit ein Verfahren, das im "Zeitalter der Globalisierung" altmodisch wirkt - es erinnert an Landschaftsschilderungen bei Albrecht von Haller und Germaine de Staël, an Adalbert Stifter, James Frazer und Margret Boveri. Früher ließ man die Realien der Geographie nicht in der Kritik an Exotismen und Orientalismen untergehen. Dieter Richter verleitet dazu, diesen geographisch grundierten Blick auf menschliche Verhältnisse wiederzugewinnen - in der gegenwärtigen, durch Klimawandel und Kriege bedrohlich wirkenden Lage wird das noch wichtig werden. THOMAS HAUSCHILD
Dieter Richter:
"Costiera Amalfitana".
Geschichte einer
Landschaft.
Klaus Wagenbach Verlag,
Berlin 2024.
160 S., Abb., geb.
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