Eine Fluchtgeschichte. 115 Seiten, die unter die Haut gehen.
Ein Weg, den auch meine Mutter 1945 gegangen ist: von Polen über die Tschechei nach Bayern. Zu Fuß, mit dem Zug. Die Angst vor den Russen, den Bomben und den Männern. Der Tausch von Zigaretten gegen Essen. Die Abwehr der Einheimischen gegen die Flüchtlinge bei der Ankunft.
Es geht um drei Frauen und ein Baby. Elfi Conrad erzählt aus wechselnder Perspektive von der gemeinsamen Flucht von Mutter Margarete, Tochter Katharina, Tochter Ursula und deren neugeborenem Baby Dora. Ja, sogar aus der von Dora: Die Geräusche des Zuges, die Kälte im offenen Viehwagen ihre Mutter wird den Güterwagen des Zuges so nennen, wenn sie ihr später immer wieder von der Flucht erzählt.
Die Geschichte beginnt im letzten Kriegswinter. Die Frauen haben ihr Haus in Niederschlesien verlassen müssen und sind in der Tschechei in einem Flüchtlingslager gelandet. Es herrschen Gewalt, Schmutz, Gestank, Enge, Krankheiten. Die Frauen haben Angst vor den sexuellen Übergriffen der tschechischen Bewacher. Und natürlich ist da gleichzeitig die Sehnsucht nach Wärme, Liebe, einem Zuhause.
Der Fanatismus, mit dem Ursula ihren Führer angebetet hat, schlägt in Wut und Trauer um. Was muss sie preisgeben, um Fahrkarten für einen Zug über die deutsche Grenze zu bekommen? Wie viel Würde und körperliche Unversehrtheit muss sie verlieren, um ihr Baby, ihre Schwester, ihre Mutter am Leben zu erhalten? Die Ängste, Zumutungen, Übergriffe sind auch in Deutschland dann nicht zu Ende.
"Die Dörfer hinter Waidhaus quellen über vor Gestrandeten aus dem Osten. Das Wort Flüchtling hat einen bösen Klang. Es klingt nach "Untermensch, Asozialer, Fremdrassiger". Wörter, die plötzlich grausam wirken. Jetzt sind sie die Ausgestoßenen und die anderen die, die nichts mit ihnen zu tun haben wollen. Die sich als die besseren dünken. Weil sie noch ihren Besitz haben, sei er auch noch so klein."
Im Frühjahr 1945 erleben sie noch einen Bombenangriff auf Würzburg, bevor sie zu einer entfernten Verwandten in den Harz gelangen. Dass alle vier überleben, wird schnell klar. Doch darum geht es nicht. Conrad zeichnet eindrückliche Frauenfiguren, denen man ihre körperlichen und seelischen Qualen abnimmt. Sie stützt sich dabei auf die Erinnerungen ihrer Mutter. Der kleine Roman ist nicht rührselig, sondern anrührend. Knapp und treffend.
"Als ob alles leicht sei.
Als ob es den Krieg nicht gäbe.
Als ob es den Hunger nicht gäbe.
Als ob es die Kälte nicht gäbe und das ewige Frieren.
Als ob es die Angst nicht gäbe."
Sehr empfehlenswert.
Die Fortsetzung der Geschichte: Elfi Conrads Roman "Schneeflocken wie Feuer".
Andere sehr lange nachhallende Geschichten rund um das Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland gibt es in den Romanen von Ralf Rothmann.