Besprechung vom 25.03.2021
Soll dieser Mann wirklich unser neuer Goethe sein?
Trumpfkarte im Stadtmarketing: Hans Pleschinskis Roman "Am Götterbaum" fragt nach Paul Heyses Gegenwärtigkeit
Dieser Roman hat schon fast seine Zielgerade erreicht, als der bis dahin beständig zitierte und kontrovers diskutierte Großschriftsteller Paul Heyse endlich seinen persönlichen Auftritt hinlegt - in einem Kapitel, das an einem malerischen Sommertag des Jahres 1906 in seiner Zweitvilla am Gardasee spielt. Die Frau des Dichterfürsten erwähnt leichtsinnigerweise die Namen der Antipoden Thomas Mann ("Hast du wieder in Buddenbrooks gelesen?") und Gerhart Hauptmann, was Heyses Blutdruck steigen lässt: "Ich habe schon für die Rechte von Schriftstellern gekämpft, als Herr Mann noch seine Schulkameraden anhimmelte und Herr Hauptmann, seltsame Namensverwandtschaft, noch nicht einmal geboren war."
Der 76 Jahre alte Heyse, Autor von zahlreichen Romanen, Theaterstücken und nicht weniger als 180 Novellen, ein umtriebiger Mann, den Theodor Fontane schon mal als neuen Goethe ausrief, befindet sich da im Zenit seines Ruhms. Vier Jahre später wird er - als erster deutscher Schriftsteller - den Nobelpreis für Literatur erhalten. Konstellationen, die Pleschinski im leichten Konversationston entfaltet, wenn er etwa Adolf Kröner zum Essen vorbeischauen lässt. "Habe übrigens kürzlich den Heinrich Mann und Rilke als Autoren abgelehnt", erzählt der Verleger Heyses, als Börsenvereins-Vorsteher und Vater der Buchpreisbindung ein einflussreicher Strippenzieher. Als Roman-Nebenfigur hat er hier fürs nötige Zeitkolorit zu sorgen - den Entwurf des Manifests der Futuristen um Marinetti, das 2009 für Furore sorgen wird, zieht er, natürlich, aus seiner "Trachtenjoppe".
Das schrammt hart an der Grenze zur Kolportage entlang; historisch verbürgte Gestalten, die in mehr oder weniger papierenen Dialogen einen Themenabend Literaturgeschichte aufführen, taugen vielleicht nicht für die Roman-Langstrecke. Wenn sich am Ende des Kapitels ein symbolträchtiges Gewitter über Gardone Riviera entlädt, lässt uns der Erzähler im Zucken der Blitze wie nebenhin wissen, dass sich zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein Sohn Mussolinis in der Heyse-Villa versteckte. Der einstige Besitzer war am 2. April 1914 in München gestorben - hochbetagt und gerade noch rechtzeitig vorm Ausbruch des großen Schlachtens.
Man kann sich Hans Pleschinskis diebische Freude an diesem nur wenige Seiten umfassenden Bonsai-Roman im Roman vorstellen: So, Freunde, hätte ich's auch gekonnt! Schließlich hat der Autor mit "Königsallee" (2013) und "Wiesenstein" (2018) gezeigt, wie sich aus den Biographien der Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann und Gerhart Hauptmann Romanstoff mit eingebauter Bestsellerformel destillieren lässt. Im Fall von Paul Heyse wählt er ganz bewusst einen anderen Ansatz. Die Perspektive verschiebt sich: Hier wird keine Dichtervita in Cinemascope nacherzählt als Subgenre des historischen Romans - diesmal, und das macht die Sache spannend, geht es um die Anschlussfähigkeit eines einstmals hochpopulären, inzwischen etwas angestaubt wirkenden Schriftstellers fürs Hier und Jetzt: Welche Verwertungspotentiale bietet Heyse, einer der meistgelesenen Autoren des 19. Jahrhunderts, für unseren stets hungrigen Literatur- und Kulturbetrieb?
In der Gegenwart erinnert in München, wo der von Maximilian II. großzügig geförderte Heyse seit 1854 lebte, nur eine Bahnunterführung an den Autor - der "Heyse-Tunnel", der für böse Zungen zum Namenspatron passt: "düster und verstopft". Das soll sich ändern. Die Stadtverwaltung will die einstige Heyse-Villa in der Nähe des Lenbachhauses allen Begehrlichkeiten von Immobilienentwicklern zum Trotz in ein Kulturzentrum umwidmen. Zur Sondierung schickt Pleschinski an einem föhnigen Münchner Spätnachmittag drei Frauen zum Ortstermin in die Maxvorstadt: die Stadträtin Antonia Silberstein, die Bibliothekarin Therese Flößer und die Schriftstellerin Ortrud Vandervelt. Jede in dem dauerparlierenden Trio hat, wie die sprechenden Namen andeuten, eine andere Perspektive auf den Nobelpreisträger - und eine spezielle Funktion im Roman: Für die Kommunalpolitikerin Silberstein, kurz vor der Pensionierung stehend, ist Heyse eine Trumpfkarte im Stadtmarketing, im Kampf um Budgets und die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Therese Flößer, bodenständige Bayerin und Angestellte der Monacensia, des Münchner Literaturarchivs, liefert die nötigen Fakten; gleichsam im Zeitraffer führt sie durchs "Heyse'sche Zeitalter" (Fontane). Dabei bedient sie sich einer erstaunlichen Handbibliothek an Primär- und Sekundärtexten - die sie praktischerweise in ihrem City-Rucksack mit sich führt. Ortrud Vandervelt schließlich, die mit ihrem letzten Roman "Stuckaturen der Emotion" gerade auf Einladung des Goethe-Instituts durch Russland tourte, ist die bis zur Gucci-Handtasche und zu ihrer floskelhaften Sprache satirisch überzeichnete Vertreterin des Literaturbetriebs-Jetsets. Für sie ist Paul Heyse, logisch, "ausgewrungener Goethe", "Dichtung wie stockige Wäsche".
Kurz vor Erreichen des Ziels wird das Trio noch um den Erlanger Heyse-Experten Harald Bradford und dessen deutlich jüngeren Mann Deng Long erweitert, ein Chinese, der in Franken einen Schönheitssalon betreibt. Was klingt, als würde Helmut Dietls "Monaco Franze" in diesem Roman nun endgültig fröhliche Urständ feiern, verpasst dem mobilen Heyse-Symposion jedoch einen neuen Spin: Für den homosexuellen Professor, dessen Vater - wie Elvis Presley - als GI nach Deutschland kam und der über "Außenseiter" und "Abgedrängte" forscht, ist Heyse, mit guten Argumenten, auch Weltbürger, Beförderer weiblicher Selbstbestimmung und Freigeist mit Rückgrat im Literaturbetrieb seiner Zeit. Wer über Heyse als "Kulturalibi" für höhere Töchter spottet, darf gern auch Vandervelts Schreibkonzept hinterfragen: Alles und jeden ins "Säurebad des Zweifels" tauchen zu wollen, klingt schwer nach edelverkitschter Postmoderne.
Laut Google Maps ist der Fußweg vom Marienplatz zur Luisenstraße 22, wo unterm titelgebenden Götterbaum die Heyse-Villa wartet, in rund 25 Minuten zu schaffen. Der Roman nimmt sich deutlich mehr Zeit, hier ist der Weg das Ziel. Wir folgen dem wunderlichen "Wanderkraal" der Fachgruppe Heyse und seinen hitzigen Tiraden durch die Münchner Innenstadt, deren Touristenströme noch nichts von Corona wissen, vorbei an altem und neuem Luxus, an nervösen Paaren und Passanten, Gesprächsfetzen im Ohr: "Ischgl hat immer aufgemuntert." - "Für deine Gelenke, Irmgard, ist die Wüste besser." Kulturkritik in short cuts; eine Stadtführung als Zeitgeistmesser. Nichts, was nicht kommentiert würde, vom Hugendubel bis zur Ewigen Flamme am Platz der Opfer des Nationalsozialismus. In den Bars kann man "lactosefreien Macchiato ohne Koffein" ordern, doch wenn einem das Smartphone zufällig in den Gully rutscht, ist das bereits das Ende der Welt.
Was würde der Dichter dazu sagen? Sind das die späten Tage der Menschheit, oder liegt's nur am Föhn? Mit leichter Hand, großer Eleganz und Präzision inszeniert Hans Pleschinski sein "Gesprächsballett" um Ruhm, Vergänglichkeit und die Fallstricke instrumentalisierter Rezeption.
NILS KAHLEFENDT
Hans Pleschinski: "Am Götterbaum". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2021. 280 S., geb.
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