Besprechung vom 22.10.2020
Diese Schönheit bei aller Härte
Pünktlich zum heutigen 150. Geburtstag von Iwan Bunin erscheint der neue Band der Werkausgabe mit Erzählungen der Jahre 1916 bis 1919.
Sofort erschießen", tönt es aus dem Telefonhörer. Die Bolschewiki machen keine Gefangenen, fünfzehn Offiziere und ein Adjutant werden sterben. Iwan Bunin schildert die Szene knapp in "Verfluchte Tage", seinem Revolutionstagebuch, das er wie Michail Prischwin und andere Diaristen akribisch verstecken muss. Die Weltkriegsfront ist nach dem Frieden von Brest-Litowsk beruhigt, der Krieg nach innen aber bricht in Russland erst richtig los, und Bunin weiß, dass er in den letzten Jahren nicht nur Ansehen, Existenzgrundlage und Freunde verloren hat - nun ist auch noch sein Leben gefährdet. 1919 werden er und seine Frau Wera Muromzewa in Odessa das Schiff besteigen und Russland für immer verlassen.
In den Jahren zuvor schreibt er, den der Kriegsausbruch 1914 fast hat verstummen lassen, Erzählungen von einer eigentümlichen Mischung aus Melancholie und Demut, Todesbewusstsein und Schönheitswahrnehmung. "Leichter Atem" heißt der neue Band der von Thomas Grob herausgegebenen Doerlemann-Werkausgabe, die den Literaturnobelpreisträger von 1933 endlich dem deutschsprachigen Publikum nahebringen möchte. Das auf dem dunkelblauen Leinen aufgeklebte Frontispiz eines Gemäldes von Wassily Kandinsky ist mit seinen hellblauen Tönen jedoch das entschieden Freundlichste an diesem Buch mit den Erzählungen der Jahre 1916 bis 1919.
Die titelgebende Geschichte "Leichter Atem" beginnt mit der Beschreibung eines frisch aufgeschütteten Lehmhügels, gekrönt von einem neuen Eichenkreuz. Unter ihm ruht eine anmutige Sechzehnjährige, die von einem Freund ihrer Eltern missbraucht und kurz darauf von einem Offizier aus Eifersucht erschossen wurde. Bunin tupft dieses kurze Leben auf zwölf Seiten in drei hart aneinandergesetzten Rückblenden hin. Nur dreimal tritt Olja Meschtscherskaja auf, einmal in einer ihrer Tagebuchaufzeichnungen und am Ende, da liegen auf ihrer Brust bereits seit längerem Erdschollen, als Gegenstand eines Tagtraums. Eine ältere Frau, der der Krieg den Bruder und mit ihm die Zukunft genommen hat, findet in der Erinnerung an Olja Trost. Einmal hat sie die Schülerin belauscht. Damals rühmte sich Olja leise und schüchtern gegenüber einer Freundin, ein Charakteristikum der Schönheit ihr Eigen zu nennen: zwar nicht die in einem Buch ihres Vaters erwähnten schwarzen Augen oder die kleinen Füße, wohl aber den leichten Atem. Fern von Fragen der Schuld und unaufdringlich verwoben mit dem Kriegsgrauen tritt die Verletzlichkeit menschlichen Lebens vor Augen.
Die meisten der achtzehn Erzählungen, von denen acht erstmals auf Deutsch erscheinen, entstehen 1916, ein Jahr nach dem Erscheinen von Bunins erster großer Werkausgabe. Der bereits zweimal mit dem renommierten Puschkin-Preis dekorierte Schriftsteller, von Maxim Gorki als "bester Stilist" seines Landes bezeichnet, hält sich in den folgenden Jahren vornehmlich auf dem Land auf, bei seiner Cousine, wo der Sohn eines verarmten Landadeligen unter Bauern aufgewachsen war. Für einige Monate reist er nach Petrograd, Moskau und Odessa, kehrt aber immer wieder zurück, bis er das Landleben 1918 nicht ganz freiwillig flieht und nach Odessa aufbricht.
Auf dem Land, in Moskau oder im fernen Orient - wo Bunin und seine Frau vor dem Krieg hingereist waren, dort spielen die Erzählungen. Vom Krieg erzählen sie nicht, aber gestorben wird in ihnen reichlich. Allerdings friedlich, im Schutze des christlichen Glaubens. In späteren Geschichten tritt ein Ich-Erzähler auf, der von den Bauern als Parasit bezeichnet wird: Sie müssten ihre Söhne und die Früchte ihrer Arbeit dem Staat geben, er dagegen, so klagen sie, ergehe sich im Nichtstun. Bunin, der sich stets für die bitterarmen, darbenden Bauern eingesetzt hat, müssen diese Begegnungen zunehmend gefährlich erschienen sein.
Auf irritierende Weise sind die Geschichten durchzogen von Naturbeobachtungen mit nicht selten prunkenden Farben: "Im Hof färbte sich das rauchige Schneegestöber tiefblau . . ." Bunin ist ein Wahrnehmungsemphatiker, ein Prosaimpressionist. Die Übersetzerin Dorothea Trottenberg rhythmisiert die Adjektivballungen, die jedem Schreibanfänger heute ausgetrieben würden, und sorgt für Bezüge und Assonanzen. Sie zeigt den Prosaisten als Lyriker und lässt die sensorisch-poetische Feinjustierung wie schwerelos hingetupft aussehen.
Die impressionistischen Naturschönheiten vermögen durchaus zu trösten, weil sie an Ideal und Transzendenz erinnern - nur stoßen sie zuverlässig immer wieder auf die zuweilen dokumentarische Härte, mit der Bunin das menschliche Los schildert. Einen Zusammenhang zwischen Himmel und Erde stiftet er ebenso wenig wie auch nur den Anschein einer Harmonie - Bunin ist ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts und zugleich der Zeitgenosse der anbrechenden Moderne. Nicht einmal die in den letzten Geschichten deutlicher hervortretenden christlichen Elemente ändern etwas daran, dass die Welt entzwei ist. Kein Wunder, dass Bunins Erzähler nur einmal von einem "unaussprechlichen Glück" spricht - als ihm, einem Schriftsteller, die Arbeit am Schreibtisch leicht von der Hand geht. "Mehr brauche ich nicht. Ich habe alles, alles in der Welt ist mein."
JÖRG PLATH
Iwan Bunin: "Leichter Atem". Erzählungen 1916-1919.
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
Hrsg. von Thomas Grob. Doerlemann Verlag, Zürich 2020. 288 S., geb.
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