Nach Marseille bin ich schon mit Hertha Paulis Erinnerungen "Der Riss der Zeit geht durch mein Herz" gereist und mit Uwe Wittstocks erzählendem Sachbuch "Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur". Diesmal mit Jean Malaquais und seinem gewaltigen Flucht- und Résistanceroman "Planet ohne Visum".
639 Seiten lang entfaltet er ein Panorama der Stadt im Jahr 1942, ein paar Monate bevor die Deutschen auch die freie Zone Frankreichs besetzen und es kaum mehr Fluchtmöglichkeiten für Verfolgte gibt. Dabei setzt er Varian Fry, dem Fluchthelfer so vieler Verfolgter, ein Denkmal.
Das Personal ist zahlreich und am Anfang kaum überschaubar: ein italienischer Gelehrter mit dem Spitznamen "Colonel", der die Hilfsorganisation des Amerikaners Smith (aka Varian Fry) mit Geld versorgt, das er auf dunklen Wegen von seiner Enkelin erhält, die dafür wiederum einen hohen Beamten der Vichy-Regierung übers Ohr haut; ein Maler mit Erfahrung im Spanischen Bürgerkrieg, der Dokumente fälscht, ohne die es kein Entkommen vor den Nazischergen geben kann; zwei Marxisten, die sich über die richtige Doktrin nicht einigen können; Kommunisten in einer Untergrunddruckerei in Paris; ein Polizeikommissar, der seinen Sohn an die Résistance verloren hat; französische Adlige, die ihr Geld vor den Nazis retten wollen; Kollaborateure und Denunzianten; starke Frauen; mutige und furchtsame Menschen; brutale Gewalt und unbedingte Liebe
So vielfältig die Figuren, so abwechslungsreich die Erzählkunst. Humoristisch angehauchte Szenen, tieftraurige Verhaftungs- und Fluchtdramen, eine spannende Befreiungsgeschichte über einen, der gar nicht befreit werden will. Es gibt Passagen, die sich lesen wie aus einem Drehbuch, lyrische Beschreibungen, Tagebucheinträge, Abschnitte in erlebter Rede, im inneren Monolog das ganze Arsenal der literarischen Moderne eng verschränkt. Dass bei so einem umfangreichen Epos auch Längen entstehen, ist kein Wunder. Man kann ein paar der Diskussionen zwischen Vertretern verschiedener marxistischer Denkrichtungen auch einfach überblättern.
Keine leichte Lektüre, aber ein sehr lohnendes Buch! Ganz hervorragend übersetzt von Nadine Püschel.