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Besprechung vom 03.09.2020
Die Maschine arbeitet immer noch
Wiedervorlage der Erinnerung: Kurt Drawert kehrt mit seinem Buch "Dresden - Die zweite Zeit" in die eigene Vergangenheit zurück.
Kennzeichen DA statt DD, das kann teuer werden. Man steht, als Dresdner Stadtschreiber, Hauptwohnsitz Darmstadt, mit seinem Auto in einer Reihe falsch parkender Wagen - und ist der Einzige, dessen Verfehlung mit einem Knöllchen geahndet wird. Kann das Zufall sein? Dazu eine höllisch nervende Klimaanlage in der Stadtschreiberwohnung und all die Präsenz-, Repräsentations- und Bekenntniserwartungen, die das Amt mit sich bringt: "Der Anrufbeantworter blinkt Alarm, als hätte ich Dienst in der Notfallseelsorge." Kein Zweifel, der Ich-Erzähler fremdelt, ein "Zurück-in-der-Heimat-sein-Wollen" würde er entschieden bestreiten, notfalls mit einem Zitat aus seinem Roman "Spiegelland - Ein deutscher Monolog", einem schmalen Bändchen der Edition Suhrkamp, das 1992 für jede Menge "Aufregung, Zorn und Zerwürfnis" sorgte: "Man muss seine Herkunft verlassen", steht da.
Warum also 2017 zurückkehren? Der Erzähler hat noch eine Rechnung offen mit der Stadt, in die er 1967, da war er eben zwölf, mit seiner Familie aus dem Brandenburgischen zog. Die Mutter lebt noch hier; gemeinsam verbrachte Sonntage voller Erinnerungen werden für die Zeit des Aufenthalts zum gern gepflegten Ritual. Nicht ohne Gespür für tragikomische Momente der Beziehung; der mütterliche Putzwahn und ihr Erstes Hausordnungsgesetz - Schuhe aus vor Betreten der Wohnung! - haben sich dem Sohn derartig eingebrannt, dass er sich noch heute unversehens in Socken auf fremden blanken Dielen wiederfinden kann. Doch weitaus grundsätzlicher als solche amüsanten Details gerät die Auseinandersetzung mit dem einst ebenso gefürchteten wie gehassten, inzwischen verstorbenen Vater, einem systemtreuen Kriminalbeamten.
Das zweite große Thema, über die Vaterfigur mit dem ersten verbunden, ist der Versuch, das Phänomen Pegida (und deren "siamesischen Zwilling" AfD) nicht durch mediale Vermittlung, sondern lebendige Anschauung zu begreifen. Dresden ist ein dankbares Pflaster für solcherart teilnehmende Beobachtung; hier, so die Vermutung, zeigt sich die "aufgebrochene Oberfläche einer in sich selbst gespaltenen Gesellschaft" wie in einem Brennglas. Die Stadt wird so auch zum Ort eines Selbstversuchs, zu einem Lackmustest für die schriftstellerische Potenz des Erzählers: "Ich möchte wissen, was mein Schreiben bedeutet, was es erfüllt, wohin es, wenn es stattfindet, will."
"Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen", schrieb einst William Faulkner - ein Satz, den Christa Wolf an den Anfang ihres Erinnerungsromans "Kindheitsmuster" stellte. Bei Kurt Drawert klingt er ein bisschen anders: "Ein System ist auf der Ebene der Instanzen und Institutionen schnell abgewickelt. Seine Kultur aber, jener tiefe innere Text, der die Gewohnheiten und Codes einer kollektiven Verständigung prägte, wirkt fort, solange die Menschen, die sie verinnerlicht haben, noch leben." Meinen jene, die jetzt im Osten auf die Politik einschlagen, in einem Affekt nachgeholten Mutes nicht eher die Bonzen der SED? Der abgrundtiefe Hass etwa auf Angela Merkel ziehe "einen anderen Hass nach sich, der seine Ursprünge im verpassten Vatermord hat: der D.D.R. nicht widersprochen zu haben, als es an der Zeit gewesen wäre".
Die Scham über das eigene Mittun, das Weggucken, die Indifferenz und Leichtgläubigkeit, so hat die Historikerin Ute Frevert kürzlich festgestellt, ist auf Dauer schwer auszuhalten. Narrative wie jenes von der flächendeckenden Demütigung des Ostens durch den Westen entfalten da ihre ganz eigene Macht. Dass Kurt Drawert zwischen Sommer 1990 und Herbst 1991, im Moment des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus, über Vater und Großvater schreiben musste, war kein Zufall. Der Riss, der durch die Familie ging, war nicht nur ein privater Konflikt, sondern quasi systemimmanent: "Spiegelland" war Drawerts Vatermord, verpackt zwischen Buchdeckel.
Der Erzähler liest sich fest im eigenen, fast dreißig Jahre alten Text, zitiert Lacan, Julia Kristeva und Zygmunt Bauman, er begegnet Jugendfreundschaften, sieht sich mit verdrängten, doch nie verwundenen Demütigungen und eigener Schuld konfrontiert, etwa jener, nichts für den drangsalierten und viel zu früh gestorbenen jüngeren Bruder getan zu haben. Dazu schießen bizarre Träume ein. Eine lineare Erzählung lässt der Prozess des Erinnerns nicht zu. Dresden, das wird im Fortgang des Romans immer deutlicher, ist für Drawert keine Stadt, sondern "ein familiärer Topos, ein Kraftfeld der Zeiten und Ereignisse, ein System der Kränkungen und Enttäuschungen", wie es ihn bis zu seinem Weggang nach Leipzig 1985 und von dort in den Westen begleitet hat. "Und diese Maschine arbeitet, sobald ich die Fabrik betrete, in der sie immer noch steht. Ich bin es, der Dresden nicht zulässt, die Bilder sind es, die sich hinter den Bildern der Gegenwart öffnen und durch die hindurch sich jedes Erlebnis verfärbt."
Drawert, der Schmerzensmann, schont sich nicht. Schreibblockaden, Versagensscham, eine kaputte Schulter als Metapher dafür, all das Leiden der Welt nicht mehr (er-)tragen zu können. Natürlich geht die OP schief. Das ganze Programm, darunter tut er es nicht. Nach zwei Dritteln des Romans diagnostiziert er für sich, sehr hellsichtig, eine "Begabung zur apokalyptischen Fantasie" - die Kehrseite immerhin "eines Vermögens zur Reflexion, zur Analyse, zur produktiven Empfindsamkeit". Zwischen diesen beiden Polen oszilliert Kurt Drawerts sprachgewaltiger Rundumschlag, der uns eindrücklich vor Augen führt, warum die "politische Reaktionsmaschine" im Osten noch immer in anderer Richtung und Geschwindigkeit läuft als im Westen. "Spiegelland" war ein Buch der Verletzung. "Auch dieser erneute Versuch zu verstehen, Spuren zu folgen, die ins Innere der Verhältnisse führen", ahnt der Autor, "wird Verletzung erzeugen."
NILS KAHLEFENDT
Kurt Drawert: "Dresden - Die zweite Zeit". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2020. 294 S., geb.
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