Über unsere Doppelleben in den sozialen Medien
Eine junge Frau entdeckt, dass ihr Freund höchst erfolgreich als Anonymus im Netz Verschwörungstheorien schmiedet und verbreitet. Sie will sich von ihm trennen, aber während sie noch mit dem Wie ringt, erreicht sie die Nachricht von seinem Tod. Wie trauert man um jemanden, den man vielleicht sogar gemocht, aber eindeutig nicht gekannt hat? Wer war dieser Mann? Und wer ist sie selbst?
Ob in Brooklyn oder Berlin - die Heldin dieses gefeierten Debüts muss sich offensichtlich zunächst einmal selbst (er)finden. Von der New York Times zum Editor's Choice gekürt, wurde der Roman in den USA über Nacht zum Bestseller und Liebling der Independent Bookstores.
»Nach diesem Roman will ich mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben!« Zadie Smith
Besprechung vom 24.02.2022
Gib ihnen etwas Romantik, und dann schick sie in die Wüste
Wie man über die Gegenwart schreibt, ohne sich von ihr als Geisel nehmen zu lassen: Lauren Oylers Romandebüt "Fake Accounts"
"Das besondere Schicksal des Romans", schreibt der britische Literaturwissenschaftler Frank Kermode, "besteht darin, ständig im Sterben zu liegen." Dies sei weder traurig noch beunruhigend, sondern so etwas wie eine natürliche Verjüngungstaktik: Die klügsten Schriftsteller und Leser einer Generation, so Kermode, stören sich immer an der Kluft zwischen der Welt, wie sie ihnen im Leben begegnet, und der Welt, wie sie in Romanen dargestellt wird. "Wenn das ein Roman ist", sagen sie, "dann schreibe ich einen Anti-Roman." Dieser Anti-Roman weist dann den Weg zu einem neuen Roman, einer neuen Konvention. Wieder empören sich "starke Köpfe" über dessen absurde Uneinigkeit mit der Realität. Wieder verkünden sie den nahenden Tod des Romans.
Wenn es darum geht, der zeitgenössischen englischsprachigen Belletristik zu einem schnelleren, wenn auch nicht unbedingt zu einem friedlichen Ende zu verhelfen, hat sich die amerikanische Autorin Lauren Oyler in den letzten Jahren als besonders produktiver Todesengel etabliert. Oyler, Anfang dreißig, ist in vielerlei Hinsicht eine altmodische Kritikerin: eine Person, der das meiste, was sie liest, nicht gefällt und die darüber ausschweifende, zitatlastige Essays in ehrwürdigen Publikationen schreibt. Deren Ehre und Würde werden dadurch gelegentlich auf die Probe gestellt, wie beim Zusammenbruch der Website der "London Review of Books" kurz nach der Veröffentlichung von Oylers 5000-Wörter-Vernichtung eines der gefeiertsten Bücher des Jahres 2018, Jia Tolentinos Essaysammlung "Trick Mirror".
Trotz ihres Rufs, brutale Verrisse zu verfassen, durchzieht Oylers Stücke eine Robin-Hood-hafte Ethik, eine tiefe Ab neigung weniger gegen einzelne unspektakuläre Bücher als gegen die Hype-Maschine einer um Relevanz ringenden Buchindustrie, die diese Bücher als Beispiele guten und literarischen Schreibens vermarktet, zulasten wirklich guten literarischen Schreibens. Was das ist, geht wie eine Art Negativdefinition aus Oylers harschen Besprechungen viel gepriesener Autoren wie Jenny Offill oder Sally Rooney hervor. Es wäre keine bloße "Abschrift eines historischen Moments", mit der sich die Millennial-Romane und Trump-Romane und Internet-Romane und Weltuntergangsstimmungs-Romane der Gegenwart so oft zufriedengeben; es wäre die ästhetisch interessante Interpretation dieses Moments "einer spezifischen, diesen Moment durchlebenden und durchdenkenden Person". Das Problem mit Offill oder Rooney liegt für sie in erster Linie nicht in der stilistischen Ambitionslosigkeit und moralischen Offensichtlichkeit, mit der deren hochintelligente, hochaufmerksame zuverlässig unzuverlässige Icherzähler brav die immer gleichen liberalen Lebenslektionen lernen, sondern in der Hartnäckigkeit, mit der Verlage und Literaturkritiker diese ambitionslose Offensichtlichkeit in inzwischen kaum noch voneinander zu unterscheidenden Hyperbeln als ihr Gegenteil präsentieren.
In Oylers Texten kommt das Wort "Meisterwerk" zweimal vor - erstens in einem Zitat von Susan Sontag über W. G. Sebald, dem sie selbst mit respektvoller Ambivalenz begegnet, und zweitens als absolut ernst gemeinte Charakterisierung des experimentellen ersten Romans von Helen DeWitt, deren schwerer Stand im amerikanischen Kulturbetrieb diese nicht nur zu Umzügen nach England und Deutschland getrieben hat, sondern auch dazu, einen noch experimentelleren Folgeroman im PDF-Format auf ihrer Website zu verkaufen. Tatsächlich sind die Autoren, die Oyler lobt, nicht selten tot (Shirley Hazzard), aus Europa (Jenny Erpenbeck) oder beides (Tove Ditlevsen).
Mit "Fake Accounts", ihrem nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Debütroman, ist Oyler ein zweiter kermodianischer "starker Kopf" gewachsen, ein Weg, ihre Frustration über den zeitgenössischen Roman als zeitgenössischen Roman zu verhandeln. Kocht man das Buch im Stil eines Klappentexts auf eine vermarktbare Handlung herunter, könnte man es beinahe mit dem Gegenstand seiner Kritik verwechseln: "Auf der Suche nach einem triftigen Grund und einem guten Zeitpunkt", könnte man schreiben, "sich von ihrem diffus zwielichtigen Freund Felix zu trennen, deckt eine junge Frau dessen geheime Identität als Instagram-Verschwörungstheoretiker auf. Bevor sie ihn jedoch dafür verlassen kann, ein mangelhafter Partner und möglicherweise ein politischer Fanatiker zu sein, stirbt er bei einem Fahrradunfall, woraufhin sie ihren Job als Bloggerin kündigt, von New York nach Berlin zieht und sich dort in die Halbwirklichkeit der Expat-Szene und die Halbwirklichkeit des Onlinedatings begibt."
Ergänzt man dies um das obligatorische Lob von Zadie Smith und ein bisschen Drama - "Wie trauert man um jemanden, den man vielleicht sogar geliebt, aber eindeutig nicht gekannt hat?" -, ist man nicht weit entfernt von der tatsächlichen Inhaltsangabe des Berlin Verlags, und man kann es diesem kaum verübeln. "Fake Accounts" erfüllt alle Kriterien für einen literarischen Blockbuster: die kühle, auf charmante Art manische Stimme der natürlich namenlosen Icherzählerin - laut ihren Kollegen eine "rückschrittliche Zynikerin, eine toxische Präsenz" im Büro, als "eine von nur zwei" im Umgang mit Semikolons nicht überforderten Mitarbeitern aber gleichzeitig unkündbar; die gespenstisch-narzisstische Verquickung persönlicher Krisen und zeitgeschichtlich bedeutsamer Ereignisse (die Erzählerin erfährt von Felix' Tod, während sie am Washingtoner "Women's March" teilnimmt); das Internet als Metonym für das Gefühl individueller und gesellschaftlicher Zersplitterung.
Doch Oyler verweigert uns nahezu alle Freuden, mit denen ein solcher Roman sonst die scharfen Kanten seiner bedrückenden Thematik geschmeidig macht. Von der Icherzählerin - wie sie selbst sagt "wohl oder übel die wichtigste Figur in dieser Erzählung" - bis zu den brasilianischen Berlin-Touristen, trilingualen Beziehungsanarchisten und Beamtinnen der Moabiter Ausländerbehörde, die keine Sekunde länger vorkommen als Erstere für sie Verwendung findet, bestehen sämtliche Figuren aus mehr oder weniger dicht beschriebenen Oberflächen, die sie einander zur Interpretation zuschieben, aber nie auf so etwas wie psychologische Tiefe blicken lassen. Ähnliches gilt für die Dynamik zwischen Erzählerin und Leser. Es ist verlockend, geschmeichelt zu sein von ihren konspirativen Randbemerkungen und ihren Witzen, vom ungefilterten Zugang, den sie uns selbst zu ihren verschlungensten Gedanken zu gewähren scheint: "Da ich weiß", sagt sie einmal über ihre frühe Schwärmerei für Felix, "was als Nächstes passiert (ihr werdet es gleich erfahren) und wie er als Freund abschnitt (davon wisst ihr schon einiges und werdet noch mehr zu hören bekommen) und was danach passiert (unglaublich, in mancher Hinsicht aber auch nicht; von dem Teil wisst ihr noch nichts, es sei denn, ihr gehört zu den Leuten, mit denen ich darüber gesprochen habe), würde ich gerne abstreiten, dass ich ihn inzwischen sehr mochte." Aber sie sagt auch, ironischerweise in einer konspirativen Randbemerkung über die Leichtgläubigkeit der Brasilianer, dies sei eine altbewährte Taktik: "Biete einen kleinen Leckerbissen an, den die meisten Leute als intime Information betrachten würden, während du selbst kein Problem damit hast, sie preiszugeben - ich wähle immer etwas Romantisches -, dann denken die anderen, sie stehen dir nah, wissen etwas Wesentliches über deinen Charakter, und du bekommst von ihnen, was du willst, wozu auch gehört, sie nach Belieben loszuwerden."
Bezüglich Romantik: Auch Felix, der mit dem Handy unter dem Kopfkissen schläft und sich weigert, von seinen "innersten Hoffnungen, Ängsten und in der Kindheit geformten Vorurteilen" zu berichten, wirkt nicht so sehr wie die Parodie eines Verschwörungstheoretiker-Freundes als wie die Parodie einer Person schlechthin. Der Roman enthält viele komplizierte Sätze über seine vermeintlich zentrale romantische Beziehung, unter anderem eine potenziell aufschlussreiche Kennenlerngeschichte (überschrieben: "Hintergrundgeschichte") und zwei potenziell erotische Sexszenen (überschrieben: "Sexszene"), doch der Kern dieser Beziehung, die Gründe, die diese Menschen haben, einander zu lieben, bleibt bis zuletzt so unbestimmt wie die Motive hinter Felix' Instagram-Account.
"Fake Accounts" ist eine unangenehme Lektüre, gelegentlich auch eine ärgerliche und eine langweilige - eine Tatsache, die auch die Ex-Freunde der Erzählerin, als griechischer Chor im Geschehen platziert, nicht müde werden zu bestätigen. "Okay, jetzt komm zur Sache", sagen sie, sagen wir, nach knausgårdhaft detaillierten Passagen über Krankenversicherungs- und Visumsanträge, nach autofiktionalen Anspielungen auf Oylers echtes Twitter-Profilbild und echte Berlin-Aufenthalte, nach einem fünfzigseitigen Exkurs über die romantischen Experimente der Erzählerin, komplett im Stil der fragmentierten Bücher verfasst, die derzeit "viele Frauen" schreiben.
Vielleicht sind sie, sind wir, aber auch nur eifersüchtig - nicht auf Felix, sondern auf das eigentliche love interest der Erzählerin, die Prozesse des Erzählens selbst: die Suche nicht nach einem Selbst oder einer neuen Liebe, sondern einer Möglichkeit, über die Gegenwart zu schreiben, ohne sich von ihr als Geisel nehmen zu lassen, nach einem neuen, alten Pfad für den Roman nicht nur als Gefäß für Figuren und Handlung, sondern als Gedankenexperiment, als eigenständige Form des Wissens, als Ticket an die Grenzen von Sprache und Erfahrung.
In seinem Auftrag, den Weg freizuräumen für Wahrheit und Schönheit, ist in diesem Buch naturgemäß wenig Raum für Wahrheit und Schönheit selbst; niemand würde von einem Gegengift erwarten, dass es auch noch gut schmeckt. Im Übrigen: Etwas über die Geschichten zu sagen, mit denen wir über die Welt nachdenken - sagt man so nicht immer auch etwas über die Welt? Er ist trotzdem da, der Griff nach dem Noch-nicht-ganz-Sagbaren - in all den Dingen, die Oylers Erzählerin nicht erzählt, nicht zeigt und nicht hergibt, in ihren Bemühungen, sich zu verstecken, indem sie so tut, als würde sie alles offenbaren, in der Verwandlung des Lesers von einem neutralen Empfänger der Wahrheiten oder Lügen der Erzählerin in eine aktiv bedrohliche, in ihre Privatsphäre eindringende Präsenz. Man könnte es den "unzuverlässigen Leser" nennen. Hier verbirgt sich eine Art verschwiegene Würde, ein Instinkt für Ruhe. Sie zu beschreiben fiele wohl in den Aufgabenbereich des nächsten Meisterwerks. KATHARINA LASZLO.
Lauren Oyler: "Fake Accounts". Roman.
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Berlin Verlag, Berlin 2022. 368 S., geb.
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