Wie lebt es sich in einer arrangierenden Partnerschaft, in der jeder seine Rolle einnimmt? Wie ist es, wenn da einer ausbricht und was kann das für Auswirkungen auf das größere Familiensystem haben? Literaturnobelpreisträgerin 2024 Han Kang schreibt hier ein revolutionäres aufbäumendes verstörendes, reizend erotisches, sehnsüchtiges, rational-kühles Meisterwerk in Form eines Romans, der schnell ausgelesen ist und emotional eine Achterbahnfahrt zwischen gesellschaftlichen Normen und psychischer Zerrüttung bietet.Das Buch ist im broschierten Softcover herausgegeben. Der Preis von 12.00 € ist ein Schnäppchen für solch ein Meisterwerk, welches zu Recht den Literaturpreis erhalten hat. Es ist eine Mischung aus Psychodrama, Gesellschaftsroman und sanftem Psychothriller und schwer einzuordnen in ein Genre. Das Cover zeichnet rotfarbige Blumen, die einen Einblick in die Träume der Geschichte und erst Sinn ergeben, wenn man diese gelesen hat. Sie kommen zart und sanft und doch sehr platzeinnehmend daher. "Die Vegetarierin ist eine kafkaeske Geschichte in drei Akten über Scham und Begierde, Macht und Obsession sowie unsere zum Scheitern verurteilten Versuche, den Anderen zu verstehen, der ja doch, wie man selbst, Gefangener im eigenen Leib ist." Die drei Akte sind jeweils aus der Ich-Perspektive je einer anderen Person geschrieben, die aus Ihrer Sicht Yeong-hye wahrnehmen und beschreiben. Dazwischen kommen die erlebten und gelebten Träume der Frau, die immer mehr in der Realität verschmelzen. Han Kangs Schreibstil ist kühl, präzise und leidenschaftlich sowie poetisch.Die drei Akte: Die Vegetarierin, Der Mongolenfleck und Bäume in Flammen."Die angenehme Eintönigkeit ihrer Ehe wird jäh gefährdet, als Yeong-hye beschließt, sich fortan ausschließlich vegetarisch zu ernähren."Die Geschichte beginnt im ersten Akt mit einer schockierend ehrlichen rationalen Beschreibung des Mannes über seine Frau und seine Beziehung zu ihr. Der Roman handelt in Südkorea und gibt Einblick in eine Kultur sowie eine subtile Kritik an der Form des Zusammenlebens in dem Land und der Region preis. Er hielt sie für unscheinbar, unattraktiv, weder angezogen noch abgestoßen. Es gab also keinen Grund sie nicht zu heiraten. "Ein Push-up-BH hätte sie attraktiver gemacht." Damit fängt das verstörende auf einer oberflächlichen rationalen Ebene sanft an. Han Kang ist eine Meisterin des Verschmelzens der krassen Gegensätze: rational und emotional. Hoffnung und Scheitern. Patriarchat und Feminismus. Leben und Tod. Themen wie Unterdrückung, Körperlichkeit und die Rolle der Frau stehen im Mittelpunkt.So bald ändert sich blitzartig das Blatt mit einem Traum und löst eine Kette radikaler Veränderungen im Leben der Protagonistin und in ihrem Umfeld aus. Yeong-hye entscheidet sich plötzlich nachts kein Fleisch mehr zu essen und sortiert alles aus. "Ich begriff nicht, dass die ganze Zeit ein solcher Egoismus und eine solche Rücksichtslosigkeit in ihr geschlummert haben sollten. Sie konnte doch nicht plötzlich so unvernünftig sein." In der Beziehung gibt es keine Zärtlichkeit mehr, denn ihr Mann riecht nach Fleisch - aus jeder Pore. "War sie etwa doch nicht die durchschnittlichste Frau der Welt, die zu finden ich mir so viel Mühe gegeben hatte?" "Ich hatte einen Traum." Ein Satz, der immer wieder kommt und die Verbindung zum Inneren ist, ohne das man ihn versteht. "Mein Mund, die Zähne und mein Gaumen waren voll von Blut gewesen.Meine Augen spiegelten sich glitzernd in einer Blutlache am Boden." "Seine Beine zucken vor Krämpfen, seine aufgerissenen Augen sind blutunterlaufen." Immer mehr wird der Traum klarer und doch entfernt man sich immer mehr vom Verstehen. Sind es reale Erlebnisse? Sind es die Schläge des Vaters in der Kindheit? Die Liebe zu den Tieren oder doch zu den Pflanzen? Angenommen sein von der Natur? "Nach dem Aufwachen konnte ich mich jedoch nicht daran erinnern, wen ich umgebracht hatte." Gewalt und Psychiatrie. Dissoziierung oder Traum. Helfen und Ohnmacht. Leben und Tod.So beginnt der zweite Akt aus der Ich-Perspektive des Schwagers der Frau. Es eskaliert zu einem familiären Drama. Ein Künstler, der obsessiv seiner Leidenschaft von Inszenierung von Kunst nachgeht. Eine Blume, die aus einem Mongolenfleck entspringt gepaart mit Leidenschaft und Sex. "Was macht Ehe schon für einen Sinn." Passen zwei träumende Menschen besser zusammen? Ist Neuausrichtung und Formierung, um neu zu leben immer lebenswert? Die Akte werden miteinander verknüpft und spielen das Spiel immer weiter und es wird größer. So ist der zweite Teil leidenschaftlich erotisch und voller Begierde, um doch wieder verstörend und radikal kühl zu werden. Hoffnung wird zu Verzweiflung und führt zu Ohnmacht.Im dritten Akt "Bäume in Flammen" wird die Story aus Sicht der Schwester In-Hye weitererzählt. Verzweifelt, hoffend und liebend geht die Geschichte ihrem Showdown entgegen und Traum und Realität verschwimmt immer mehr in den Protagonisten-Schwestern. Das feine Band zur Realität wird durchtrennt. Nebenher die rationale Kühle des Systems in dem wir gefangen sind. Kann man ein Baum sein? Können Blumen aus dem Schritt wachsen? "Hätte nicht das Blut, das ihre Schwester heute verloren hatte, aus ihrer eigenen Brust sprudeln müssen?"Ein Aufschrei - Revolution, Naturverbundenheit und Leidenschaft. Wild und rebellisch, still und ohnmächtig. Ein Roman wie ein kompliziertes Go-Spiel. Unmöglich den Sinn zu verstehen. Und doch kann man nicht aufhören, darüber nachzudenken. Bis das Gehirn wieder aussetzt."Egal, was passiert, selbst nach einem schrecklichen Ereignis isst man, trinkt man, geht auf die Toilette, wäscht sich. Manchmal amüsiert man sich sogar."Stille, Ruhe und In sich gehen. "Im Moment des Träumens hält man alles für wahr." Werden wir aufwachen? Ein Roman mit Tiefgang und einer dunklen surrealen Atmosphäre. Beklemmung sowie Hoffnung bis zur letzten Seite und darüber hinaus.Einatmen, Luftholen, Festhalten. Verstört sein und Nachdenken.5 Tagträume in die Welt über uns in uns und ein geheimnisvolles Lächeln."Keiner kann mir helfen. Keiner kann mich retten. Keiner kann mir das freie Atmen wiedergeben.""Die Wolken sind nicht mehr so dicht und lassen hier und dort einzelne Sonnenstrahlen durch."Wird es Antworten geben? Es endet mit einer Frage und nicht mit dem letzten Satz. Wow! Chapeau. Nobelpreis!