Besprechung vom 26.09.2024
Online funktioniert diese Überschrift nicht
Eine Frage an den Schreibkurs betreffend eine Art von Haushaltsobjekt: Kurzprosa von Lydia Davis
Dass Lydia Davis sehr kurze Geschichten schreibt, dürfte auch Lesern dieser Zeitung inzwischen bekannt sein. Verblüffend bleibt, dass sie es sogar schafft, auf einer Buchseite einen Roman unterzubringen. Na ja, oder zumindest dessen Kern. Gleich das Eröffnungsstück ihres neuen Prosabandes, betitelt "Meine Aktentasche", könnte so ein Romankern sein: Der eines Campusromans von Richard Russo vielleicht, in dem es um die Absurditäten der neuen Universität geht, an der jegliche Exzentrik von Lehrenden schon verdächtig ist und viel mehr als die fachliche Qualifikation zählt, dass sie sich regelkonform verhalten. Bei Lydia Davis jedenfalls lesen wir: "Offenbar war es meine Aktentasche, die dafür sorgte, dass man mich im folgenden Semester wieder zum Unterrichten anstellte. Sie waren beeindruckt, weil meine Aktentasche so sehr nach Aktentasche ausschaute."
Die hier erzählende Figur, über die man sonst nichts erfährt, vermerkt weiterhin, dass sie über einen Drehstuhl auf Rollen im Büro und ein Postfach mit dem Namen in fettgedruckten Buchstaben verfüge, außerdem "den Studierenden, wenn ich sie auf dem Gang traf, mit angemessenem Gesichtsausdruck" begegnet sei und immer klar und deutlich spreche. Das ist schon die ganze Erzählung, von der, bestes Eisberg-Prinzip, der größte Teil gar nicht als Text sichtbar ist. Aber man denkt ihn sich sofort aus, denkt sich aufgrund der Lakonie und des demonstrativen Zynismus eine Dozentenfigur, die tief gefallen ist und bitter gelernt hat, wie man mit dem Strom schwimmt und nur noch funktioniert. Oder auch eine, die das alles mit mehr Humor hinnimmt und eine Kurzgeschichte daraus macht - vielleicht so wie Lydia Davis selbst.
Die 1947 in Northampton, Massachusetts Geborene hat nämlich reiche Erfahrungen nicht nur im Literaturbetrieb, sondern auch in der Lehre gesammelt. Sie hat in Graz Deutsch gelernt, mit ihrem ersten Ehemann, dem Schriftsteller Paul Auster, zu Beginn der Siebzigerjahre in Frankreich gelebt, hat seither Literatur aus dem Französischen (etwa Flaubert, Proust, und Butor), aus dem Deutschen und Niederländischen ins Englische übersetzt. Seit 1976 publiziert sie eigene Prosa, die in ihrer Verdichtung auch oft an Lyrik grenzt. Die Kürzestform, in der sie schreibt, wird manchmal auch als "flash fiction" bezeichnet. Davis lebt heute im amerikanischen Bundesstaat New York und hat an verschiedenen Einrichtungen kreatives Schreiben unterrichtet.
Während ihre Texte wirklich alle Lebensbereiche zum Thema haben können (etwa auch die briefliche Beschwerde bei einem Tiefkühlerbsenhersteller, dass das Gemüse auf der Packung nicht so aussehe wie das darin), schimmern freilich oft die Themen eines im weitesten Sinne künstlerischen Daseins durch, auch im ganz Alltäglichen. Das verraten im vorliegenden Band schon Titel wie "Gestern Abend im Kino", "Geplagter Gelehrter im Zug" oder "Eine Frage an den Schreibkurs betreffend eine Art von Haushaltsobjekt". Andere Titel lösen, eingedenk des vor Kurzem gestorbenen Literaturwissenschaftlers Horst-Jürgen Gerigk, "Titelträume" über den Inhalt des folgenden Textes aus, etwa "Einsam (Dosenschinken)", "Wiederkehrendes Rübenproblem" oder "Multiple-Choice-Frage, gestellt von Fremden in der Broschüre". Genau solche Titel wirken, zumal auf heute arbeitende Journalisten, vielleicht auch wie ein dickes "Ätsch" oder "Jetzt erst recht" angesichts kulturkillender Maximen wie "Online funktioniert diese Überschrift nicht".
Und schließlich verraten auch viele der Titel schon, inwiefern wir in der Prosa von Lydia Davis ein Universum der Intertextualtität bereisen, das von der Geschichtsschreibung über die Ostgoten bis zu Karl Marx, von Agnès Varda bis zu Enrico Caruso reicht. Was hier in der Nacherzählung nach kulturellem Namedropping klingen mag, wird bei Lydia Davis aber immer auch ironisch gebrochen, etwa wenn ein Text wie "Vorbereitung für den Notfall", der an Frank O'Haras teils verzweifelten Gedichtband "Meditations in an Emergency" (1957) erinnert, dann - vordergründig - überhaupt nichts mit Literatur zu tun hat. Sondern es geht bei Davis um ganz handgreifliche Vorbereitungen von auf dem Land Lebenden, denen das Wasser knapp werden könnte, falls die Pumpe mal ausfiele, und die deshalb etwas Wasser in einer alten Badewanne bereithalten. Das aber wird gefährlich für Katzen und Spinnen. Die Verschiebung der Sorgen von denen des Menschen zu jener um Tiere, die auch in vielen anderen Texten von Davis durchscheint, muss O'Haras philosophischen Gedichten nichts wegnehmen, fügt aber etwas hinzu, wenn es angesichts der ertrunkenen Zitterspinne heißt: "Niemand hat sie vermisst, glaubten wir. Doch bei Insekten ist das schwer zu sagen."
Die immerhin fast zwei Seiten lange Erzählung "Der Nachmittag einer Übersetzerin" lässt von der mit Graz vertrauten Lydia Davis durchaus eine spielerische Antwort auf Peter Handkes "Nachmittag eines Schriftstellers" vermuten. Die Erzählung treibt das seit Langem bekannte und jüngst noch verschlimmerte Hungertuchdasein der literarischen Übersetzer auf die Spitze im Vergleich zu einem Erfolgsschriftsteller, der sich ein Haus voller Kunst (und offenbar ungelesener Bücher) leisten kann, während seine Besucherin, die sein Werk übersetzt, danach drei Stunden im Kaufhaus verbringt und schließlich nur "ein einziges paar rote Shorts für elf Dollar" erwirbt.
Um auch hier die Arbeit des Übersetzers nicht zu vergessen: Jan Wilm sorgt mit seiner dafür, dass Lakonie und Humor von Lydia Davis im Deutschen erhalten bleiben, eine schöne Leistung. Sie zeigt sich besonders bei einigen unter dem Titel "Sorry für die Störung" gesammelten (oder hübsch erfundenen?) Kleinanzeigentexten, etwa: "Nabend. Ich werde Anfang August nicht in der Stadt sein, und meine Schildkröte möchte jemanden bezahlen, der oder die 3-4 Mal vorbeikommt, um ihr etwas Salat zu bringen. Bitte kontaktiert mich statt sie, wenn ihr jemanden kennt, der oder die Interesse haben könnte." JAN WIELE
Lydia Davis:
"Unsere Fremden".
Stories.
Aus dem
Amerikanischen
von Jan Wilm.
Literaturverlag Droschl, Wien 2024. 310 S.,
geb.
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