»Das Buch ist eine Wucht. Es ist sprachmächtig, bildgewaltig, energiegeladen. «
Jan Fleischhauer, Das Literarische Quartett, Juni 2020
Sechs Jahre braucht Benito Mussolini, um zum einflussreichsten Politiker im krisengeschüttelten Nachkriegsitalien zu werden. Sechs Jahre, um den Faschismus als Staatstheorie zu verankern und ein autoritäres Regime zu implementieren. Ein Roman wie ein Spiegel europäischer Geschichte - und ein Mahnmal gegen die Rückkehr des Faschismus in Europa.
Ausgezeichnet mit dem Premio Strega
»Seine Detailgenauigkeit, die das allmähliche Kippen der politischen Lage zum Vorschein bringt, macht ihn lesenswert und oft verblüffend aktuell. «
Jutta Person, Die Zeit, 20. 02. 2020
»Der Roman, auf den Italien seit Jahrzehnten gewartet hat. Ein Meisterwerk. « Roberto Saviano
Im Jahr 1919 gleicht Italien einem politischen Trümmerfeld. Der Erste Weltkrieg hat die italienische Regierung massiv geschwächt, sozialistische wie rechtsnationale Gruppen erleben einen noch nie dagewesenen Aufstieg und stellen politische Institutionen radikal in Frage, während frustrierte Kriegsheimkehrer durch die Straßen des Landes ziehen. Getrieben von ihrem Unmut lassen sich die ehemaligen Kämpfer bald von einem Mann einen, der sie zu gemeinsamen Aktionen gegen die politische Linke aufruft: Benito Mussolini, Gründer des Il Popolo d'Italia und ehemaliger Chef des linksextremen Flügels der sozialistischen Partei Italiens. Dem Fünfunddreißigjährigen gelingt es, sich in Zeiten politischer Unsicherheit Gehör zu verschaffen und unterschiedlichste Gruppierungen unter einem gemeinsamen Banner zu versammeln. Bis zum berühmten Marsch auf Rom 1922 und darüber hinaus wird Mussolini seine Macht in Italien rasant ausbauen und den Faschismus als Staatsideologie unwiderruflich festschreiben.
Stimmen zum Buch
»Scuratis 'M.' ist eine beispiellose Auseinandersetzung mit dem Erbe Mussolinis. «Variety
»Eine Lehrstunde des Antifaschismus. «
The New York Times
»Ein Buch, das es so in der literarische Kultur Italiens noch nie gegeben hat. «
La Repubblica
Besprechung vom 07.03.2020
Aus dem Leben einer Schablone
Mittels historischer Kolportage: Antonio Scurati erzählt in "M" die Geschichte Benito Mussolinis und des Faschismus in Italien.
Von Andreas Kilb
So beginnt ein Kapitel dieses Buches: "Der Tag erstirbt am Horizont. Schatten durchdringt den Pinienwald, erreicht die prachtvollen Villen an der Küste, flutet den Hafen und verschluckt die Stadt. Die Hotels und Lichtspielhäuser leuchten auf, die winterliche Luft ist weich und lau. Zärtlich senkt sich die Nacht über Cannes."
Es ist der 8. Januar 1922. Benito Mussolini, Führer der Faschistischen Partei Italiens, trifft sich mit einem alten Weggefährten, dem Journalisten Pietro Nenni, der inzwischen auf die Seite der Sozialisten übergetreten ist. Die beiden laufen an der Croisette entlang und reden über die Zukunft ihres Landes, die Unmöglichkeit, Arbeiterschaft und besitzende Klassen miteinander zu versöhnen, und der Erzähler pinselt dazu eifrig an den Kulissen: "Tonlos, fast gequält klingen ihre Stimmen jetzt. Das Meer, das gegen die Wellenbrecher schlägt, umrauscht die Kaimauer. Die schlaflose Nacht wird zu einer Vorlesung unter freiem Himmel, zu schwermütigen Gedanken über die Geschichte . . . Die nächtliche Brise trägt eine ferne Ahnung von Triumph heran."
Was ist das? Eine Winternachtsphantasie? Eine biographische Skizze? Antonio Scurati, Dozent für Kreatives Schreiben und Rhetorik an einer Mailänder Privatuniversität, bezeichnet sein Buch im Kleingedruckten der Umschlagseiten als dokumentarischen Roman. "M - Der Sohn des Jahrhunderts", so Scurati, enthalte nur Begebenheiten und Dialoge, die "historisch belegt und/oder durch mehr als eine Quelle bezeugt" seien. Aber damit beginnen auch schon die Unklarheiten. Hat die "ferne Ahnung von Triumph" den Duce damals tatsächlich gestreift? War der Winter 1922 an der Côte d'Azur "weich und lau", und ist der Abendschatten im Pinienwald durch Quellen belegt?
Das Genre des historischen Tatsachenromans hat in den letzten Jahren eine Art ästhetischen Durchbruch erlebt. Das liegt weniger an Jonathan Littells dreizehnhundertseitiger Nazi-Groteske "Die Wohlgesinnten", auf die sich Scurati in Zeitungsinterviews beruft, als an der Cromwell-Trilogie der englischen Autorin Hilary Mantel, deren dritter Band in diesem Frühjahr auf Deutsch erscheint. Bei Mantel wie bei Scurati - und anders als bei Littell - ist die Hauptfigur eine historische Person, und während der klassische Geschichtsroman das Geschehen aus der Perspektive eines allwissenden Reporters betrachtet, pflanzt Mantel ihr Erzählerauge dem Helden gleichsam hinter die Stirn. Mit seinem Blick und seinen Emotionen schildert sie, was passiert; zugleich springt sie, wenn es die Situation erfordert, in die historische Gesamtansicht oder folgt den Wegen anderer Figuren, bevor sie wieder an ihre Zentralgestalt andockt. Ereignisse, die viele Jahrhunderte zurückliegen, bekommen so eine ungeahnte Dringlichkeit. Ein Mann, der zur Zeit Heinrichs VIII. lebte und an dessen Hof zum allmächtigen Lordkanzler aufstieg, wird zu unserem Avatar für die englische Renaissance.
Das Risiko dieses Verfahrens liegt darin, dass der Erzählstoff diffus wird: dass er sich wie ein schwächeres impressionistisches Gemälde in Farbkleckse auflöst. Hilary Mantel hat diese Gefahr geschickt vermieden. Antonio Scurati entgeht ihr nicht. Sein Buch schildert auf mehr als achthundert Seiten in knapp hundertfünfzig kurzen Kapiteln den Aufstieg Benito Mussolinis vom Gründer einer rechten Splitterpartei zum allmächtigen Diktator Italiens, aber über den Mann, der im Zentrum dieses Geschichtspanoramas steht, erfahren wir so gut wie nichts. Wir lesen, dass Mussolini Schweißfüße hat, dass er nach Frauen giert, gern Minestrone isst und noch lieber am Steuerknüppel eines Flugzeugs sitzt, aber jenseits solcher Banalitäten hat uns Scurati über seinen Helden nichts mitzuteilen. Das liegt nicht daran, dass man über Mussolini zu wenig weiß. An Selbstzeugnissen des Duce in Wort und Schrift herrscht kein Mangel, sein Menschenhass, seine Verachtung der Masse, seine Arbeitswut und seine Stimmungsschwankungen sind legendär. Einem Autor, der den Ehrgeiz hätte, den "Sohn des Jahrhunderts" literarisch zu ergründen, müsste das Kunststück gelingen, die Faszination zu schildern, die von diesem Charakter ausging, ohne ihr dabei zu erliegen.
Aber dieses Kunststück wollte Scurati gar nicht vollbringen. Wie ein Hintergrundrauschen zieht sich seine Furcht, jenem "M", den der Titel beschwört, allzu nahe zu kommen, durch alle Kapitel des Buches. Statt durch Mussolinis Augen zu schauen, betrachtet er dessen Taten wie ein indignierter Archivar ein vergilbtes Nacktfoto. Margherita Sarfatti, die großbürgerliche Geliebte des Diktators, sieht er im "Brunstgeruch" einer Absteige liegen, "die Schenkel noch gespreizt, kraftlos und doch erhaben", und als eine attraktive Bittstellerin den Gründer der Fasci-Bewegung aufsucht, damit er ihren Gatten aus dem Gefängnis holt, starrt der Duce sie an, "als tropfe ihr ein Rinnsal Sperma aus dem Mundwinkel".
Es ist nicht die menschliche Seite der Geschichte, die in solchen Szenen aufblitzt, sondern der Schablonenblick der Kolportage, vor dem alles Private zum Illustriertenbild gerinnt. Dennoch könnte man Scuratis Ausflüge in die Boudoir-Prosa hinnehmen, wenn sie dazu beitrügen, den geschichtlichen Hintergrund der Erzählung zu erhellen. Aber gerade an diesem Punkt enttäuscht Scuratis Roman auf ganzer Linie. Ein italienischer Rezensent hat dem Autor die sachlichen Fehler seines Buches (die in der Übersetzung teilweise getilgt sind) einzeln vorgerechnet. Beim deutschen Leser überwiegt eher der Eindruck eines Buches, das den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Jeder einzelne frühe Weggefährte Mussolinis bekommt bei Scurati einen eigenen Auftritt, aber das Drama der faschistischen Machtergreifung, das im Herbst 1922 im "Marsch auf Rom" und in der Ernennung des Duce zum Ministerpräsidenten gipfelte, wird durch diese Personalisierung nicht klarer, sondern undurchsichtiger. Dabei trägt die holzschnitthafte Zeichnung der Nebenfiguren das Ihre dazu bei, dem Leser das Interesse an ihrem Tun auszutreiben.
Die einzige Figur, die in "M" neben dem Titelhelden stärkere Konturen gewinnt, ist der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti, dessen Ermordung durch faschistische Schläger im Sommer 1924 die größte Krise von Mussolinis Herrschaft auslöste. In den Passagen, die von Matteotti handeln, spürt man eine innere Beteiligung des Autors, die man in "M" ansonsten schmerzlich vermisst. Vielleicht wäre ein Doppelporträt von Mussolini und Matteotti der bessere Roman gewesen. Aber auch dieses Buch hat Antonio Scurati nicht geschrieben.
So kommt es, dass man dieses Achthundert-Seiten-Skript zu einer noch ungedrehten History-Serie (die demnächst mit Scuratis Beteiligung verfilmt werden soll) nach anfänglicher Begeisterung mit immer größerer Gleichgültigkeit liest. Zwischen die einzelnen Kapitel des Buches hat Scurati, wie um seinen Text zu beglaubigen, Auszüge aus dem zitierten Material gestellt: Zeitungsartikel, Parlamentsreden, Telegramme, Geheimdienstberichte und anderes. Dabei ist der Wortlaut beim historischen Erzählen das geringste Problem. In Wahrheit geht es um literarische Alchimie: die Verwandlung der Vergangenheit in Gegenwart. Der Faschismus als psychischer Komplex und Massenphänomen ist für uns längst wieder bedrängend aktuell, aber Scurati schafft es, ihn wie ein fernes historisches Relikt aussehen zu lassen. Auch "M" ist übrigens nur der erste Band einer Trilogie. Der Ausgang der Geschichte steht fest. Möge der weitere Weg dorthin zu einer beglückenderen Lektüre werden.
Antonio Scurati: "M - Der Sohn des Jahrhunderts". Roman.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 830 S., geb.
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