Besprechung vom 17.05.2023
Flanieren in der Ödnis
Weil man Ulrich Wüsts kleine Schwarz-Weiß-Abzüge eigentlich als Tableau an der Wand sehen muss, möglichst aus Aberdutzenden zusammengesetzt, kam dem Verlag eine so einfache wie einleuchtende Idee: Der Schutzumschlag lässt sich zum Plakat öffnen, das einen mit knapp hundert Aufnahmen augenblicklich hineinzieht in diesen seltsamen Kosmos eines Paradoxes, den Wüst mit seinen Stadtansichten schafft. Denn einerseits gleichen seine menschenleeren Orte einer Art Ruheraum, andererseits sorgen die raffinierten Kompositionen streng gegliederter Flächen dafür, dass das Auge nicht stillhalten kann und fortwährend von Bild zu Bild hüpft. Aber natürlich lohnt sich der genaue Blick auf diese öden Szenerien - auch wenn Wüst den Wert des Einzelbilds relativiert. Denn hinter der vermeintlich dokumentarisch-trocken daherkommenden Bildsprache verbirgt sich teils wohlformulierte Kritik, teils offener Zynismus angesichts der schnöden Wirklichkeit in den Städten und Städtchen der DDR, ob Berlin, Leipzig und Magdeburg oder Schildow und Bad Freienwalde. Dabei untergrub der aufklärerische Impetus, der Wüst als studierten Stadtplaner bei seiner Arbeit antrieb, keineswegs den Kunstcharakter des Werks - der mit der Teilnahme an der Documenta 14 im Jahr 2017 zementiert wurde. Aber natürlich kann man seinen Fotoband auch einfach als Einladung begreifen, sich auf eine Zeitreise zu begeben und an Orten zu spazieren, die nie zum Flanieren eingeladen hatten. F.L.
"Stadtbilder 1979-1985" von Ulrich Wüst. Hartmann Books, Stuttgart 2022. 156 Seiten, zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotografien. Gebunden
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