Herbert Grönemeyer - die erste umfassende Gesamtdarstellung über den Künstler und sein Werk
Zum ersten Mal sah ihn die halbe Nation in dem Film »Das Boot«. Dann kam der große Erfolg als Musiker mit »4630 Bochum«, das zusammen mit »Mensch« bis heute zu den zehn meistverkauften Musikalben in Deutschland gehört. Mit Versen wie »Gib mir mein Herz zurück / Bevor es auseinanderbricht« hat Grönemeyer deutsche Popgeschichte geschrieben. Wer aber ist dieser Herbert Grönemeyer? Wie lässt sich die Wucht und Energie, auch das Tröstliche seiner Musik erklären? Wie gelang es ihm über Jahrzehnte hinweg, sich selbst treu zu bleiben? Und warum sieht man in ihm wie bei keinem anderen Star in Deutschland einen von uns?
Auf der Grundlage zahlreicher Gespräche mit dem langjährigen Freund erzählt Michael Lentz von der Herkunft und Familie des Ausnahmekünstlers und beschreibt ein faszinierendes Leben im Zeichen von Musik und Literatur, Pop und Politik.
Besprechung vom 07.12.2024
Der Mensch heißt Mensch und nicht "Ey Boleyn"
Seine Stimme ist seine Identität: Michael Lentz nähert sich Herbert Grönemeyer und dessen legendären Bananentexten mit einer Mischung aus akademischer Tiefe und Witz.
Dies ist eines der ernsthaftesten Bücher, die je über Popmusik geschrieben wurden, und zugleich eines der komischsten. Seine akademische Ernsthaftigkeit beeindruckt so durchgehend, wie sie punktuell belustigt. Nach einem Textbeispiel, in dem Herbert Grönemeyer "Kaliningrad" auf "Aktienmarkt" reimt und "Hafermilch" auf "Nummernschild", lesen wir bei Michael Lentz: "Ein Reimlexikon verwendet Herbert Grönemeyer seinem eigenen Bekunden nach nicht. (. . .) Wie an den lautlichen Transformationen von unechten zu echten Reimen zu beobachten, ist es oftmals schwer zu entscheiden, ob seine das Zusammenklingen erst ermöglichenden Artikulationsgleichungen zum regionalen Lautstand der Sprache (Ruhrpott) gehören oder stimmlicher Eigenanteil sind."
Zur Erinnerung: Lentz ist sowohl Dichter und Romancier als auch Literaturwissenschaftler. Er hat nicht nur Liebeslyrik, historische ("Pazifik Exil") und sehr persönliche Romane ("Muttersterben") veröffentlicht, sondern auch eine zweibändige Geschichte der Lautpoesie und -musik nach 1945 im Umfang von 1240 Seiten. Er ist außerdem Musiker und hat nicht zuletzt die Verbindungen von Jazz und Lyrik ausgelotet.
Wenn er also über Herbert Grönemeyers (Nicht-)Reime schreibt und es wie hier sehr amüsant wirkt, sollte man dies nicht als Spott missverstehen - sondern als Beleg der Akribie, mit der Lentz vorgeht, womit er sich auch befasst. Er möchte der Faszination von Grönemeyers Liedern wissenschaftlich auf die Spur kommen - sowohl, was Harmonik und Bauform betrifft, als auch im Hinblick auf das Sprachmaterial, die Lyrik und besonders auf Gesang und Diktion. Wenn Lentz sich etwa dem widmet, was gemeinhin als Grönemeyers "Nuscheln" verbucht wird, dann kommt dabei eine aufschlussreiche Analyse heraus, die vor allem erkennen lässt, wie kunstvoll bei diesem Sänger auch das vermeintlich Kunstlose ist. Aus Lentz' eigener Frankfurter Poetikvorlesung schließlich stammt der Satz: "Die Stimme ist mehr als alles Sagen." Insofern ist Lentz genau der richtige Autor für dieses Buch, das vielfach staunen lässt, schon über seine Form.
Die Engführung von Biographie und Werkgeschichte ist bei Büchern über Popmusiker zwar die Regel, aber ein so freies Vorgehen, das sich beim Biographischen auf Exemplarisches beschränkt (anstatt mühsam ab ovo zu erzählen) und dafür die Analyse im Einzelnen stark vertieft, hat man selten gesehen. Um es konkret zu sagen: Man erfährt hier auf knapp dreißig Seiten alles Relevante über Herbert Grönemeyers Theater- und Filmkarriere, von Peter Zadek und Pina Bausch bis zur Rolle in Wolfgang Petersens "Das Boot", während allein der Abschnitt "Stimme" mehr als fünfzig Seiten umfasst, der zur Poetik der Songs auch fast fünfzig und jener über die Genese der Liedtexte ebenso.
Dass Grönemeyer beim Songschreiben zunächst mit "Bananentexten", zumeist aus improvisiertem Englisch, beginnt und diese dann sukzessive ersetzt, hatte man zwar schon öfter gehört - aber wie der Prozess genau abläuft, eben doch noch nicht gelesen. Hier findet man sogar die Vorstufen dokumentiert und erfährt etwa, dass Grönemeyers Hit "Mensch" zunächst "Plage de ma vie" hieß, was sich denn ja auch im finalen Strophentext vom "Strand des Lebens" noch übersetzt erhalten hat. Mit der Vorstufe zu "Es ist ok / Alles auf dem Weg / Und es ist Sonnenzeit / Ungetrübt und leicht" hätte indessen wohl niemand gerechnet. Sie lautet: "Babe ole / Seven in a can / I said alldoright / Summered is of right". Man denkt an kalauernde Sponti-Sprüche.
Biographisch wird Grönemeyers Bananen-Technik allerdings hergeleitet aus dem "Erbe seines frühen Radiohörens, speziell von Radio Veronica in Holland". Doch selbst das kann die Vorstufe zur Ohrwurmstelle "Der Mensch heißt Mensch" nicht restlos erklären, hier kommt auch die Wissenschaft an Grenzen. Sang Grönemeyer an dieser Stelle doch zunächst: "And I said Ey Boleyn". Vielleicht auch ein Relikt aus dem Theatergedächtnis?
Lentz immerhin weiß abstrakt, dass sich im "scheinbar Unsinnigen" von Grönemeyers assoziativer Stegreifdichtung "sinnvolle Inseln" verbergen. Sie bediene sich "nicht nur grammatischer Teilstrukturen", sondern greife auch auf "verbale Versatzstücke zurück, die im Gedächtnis gespeichert sind. Analog zur Traumdeutung könnte man wahrscheinlich auch psychologisch interpretieren, warum gerade diese Bestandteile verfertigter Rede aus dem Gedächtnis hochgespült werden."
Wenn es um Grönemeyers Stimme geht, sind Herkunft und Entwicklung handgreiflicher: Von "Hausmusik und Chorgesang" zeichnet Lentz den Weg über die Bühne bis zu den ersten Studioalben und zur Selbstfindung einer bis heute in der deutschsprachigen Popmusik wohl einzigartigen Intonation - gegen alle Widerstände, wie auch eine Anekdote um den früheren Grönemeyer-Produzenten belegt: "Edo Zanki monierte permanent, er könne die Endsilbe nicht verstehen, ob Grönemeyer den Satz nicht noch einmal einsingen könne. Er seinerseits habe diese pedantische Haltung nicht verstehen können, so Herbert Grönemeyer, schließlich sei es hier doch um die Identität seiner Stimme, die Stimme als seine Identität gegangen."
Was diese Identität ausmacht, erfährt man bei Lentz in all ihren Facetten: von Grönemeyers Fähigkeiten, Trauer und Liebe in Text und Ton zu verwandeln, über dessen Offenheit für neue Stile wie Trip-Hop, die ihm um 1998 einen entscheidenden Schub gaben, bis zu Kapiteln über das Singen auf Deutsch und über politische Positionierungen, die in einer solchen Gesamtschau nicht fehlen dürfen. Stellenweise wird auch Lentz dabei persönlich: Man merkt, dass es hier eben nicht nur um kalte Analyse, sondern auch um gelebtes Leben geht, wie viele Menschen es in Grönemeyers Werk gespiegelt sehen oder widerhallen hören. JAN WIELE
Michael Lentz: "Grönemeyer".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 368 S., Abb., geb.
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