Besprechung vom 19.08.2020
Bleichmittel auf die Brustspitzen
Wie sehen japanische Frauen ihr Liebesleben? Mieko Kawakamis "Brüste und Eier" steht symptomatisch für eine ganze Reihe von Romanen, die darüber ungeschminkt Auskunft geben. Und damit ein Gesellschaftsporträt des Landes zeichnen. Nun erscheint das Buch auf Deutsch.
Alles ist schon äußerlich auf Erfolg gebürstet: Derber als mit "Brüste und Eier" kann ein als Roman ausgewiesenes Werk kaum betitelt werden. Im Kontrast dazu bedient das Cover in Hellblau, gerahmt von Kirschblüten und Schmetterlingen, ergänzt durch die Geste einer keusch ihre Brust bedeckenden jungen ostasiatischen Frau, konventionelle Erwartungen an eine japanische Autorin. Das Ganze wird verkaufsfördernd ergänzt durch ein Lob des männlichen Kollegen Haruki Murakami. "Brüste und Eier" basiert auf einer gleichnamigen, 2008 preisgekrönten Erzählung von Mieko Kawakami, die sich damit in die Riege der prominenten und neuerdings auch international sichtbaren japanischen Schriftstellerinnen hochgeschrieben hat.
Worum geht es? Natsuko, die dreißigjährige Ich-Erzählerin mit schriftstellerischen Ambitionen, bewohnt ein winziges Apartment in Tokio und erhält Besuch von ihrer älteren Schwester Makiko sowie deren zwölfjähriger Tochter. Makiko schlägt sich in einer heruntergekommenen Gegend von Osaka als Bardame durch und hat sich eine Brustvergrößerung in den Kopf gesetzt - in der Hoffnung, damit die nachwachsende Konkurrenz auf Distanz zu halten. Nach intensivem Studium der Prospekte von Schönheitskliniken in der Hauptstadt steht nun eine direkte Beratung an, auch wenn unklar bleibt, wie sie die für ihre Verhältnisse astronomischen Kosten stemmen will.
Nicht nur die Schwester, auch ihre Tochter Midoriko sieht das Unterfangen insgeheim skeptisch. Doch schon lange redet die nicht mehr mit der Mutter, und was in ihr vorgeht, erfahren wir nur aus in den Text eingestreuten tagebuchartigen Notizen. Midoriko findet es "voll eklig", dass ihr, wenn sie demnächst ihre Tage bekommt, "jahrzehntelang jeden Monat Blut zwischen den Beinen herausfließt". Alles, was auf Weiblichkeit und Sexualität hindeutet, ist ihr zuwider, zudem schreckt sie der Gedanke, selbst Mutter zu werden. Auch ihre Tante Natsuko kann sich ein Leben mit einem Mann schlichtweg nicht vorstellen und bezeichnet sich selbst als asexuell. Immerhin verfolgt sie im zweiten Teil des Buches, der acht Jahre später, im Sommer 2016, einsetzt, eine eigene obsessive Idee: Sie will ein Kind ohne Mann großziehen. Und das weiterhin ohne festes Einkommen.
Was treibt diese Frauen zu ihren einsamen und kaum begründeten Beschlüssen, die sie womöglich nur noch weiter ins gesellschaftliche Abseits führen? Hier zeichnet sich ein einigermaßen düsteres Bild von Weiblichkeit in Japan ab. Und es ist keinesfalls aus der Luft gegriffen. In einer Gesellschaft, die nach wie vor stark von Geschlechterseparierung bestimmt ist, klaffen die Lebenswelten von Männern und Frauen stärker auseinander als in anderen fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Wo Firmen ihren weiblichen Angestellten zur Uniform gleich auch noch die Absatzhöhe ihrer Schuhe vorschreiben und Frauen auf dem Arbeitsmarkt, ungeachtet aller offiziellen Gleichstellungsgebote, von vornherein die schlechteren Karten haben, ist es um weibliche Selbstverwirklichung nicht gut bestellt. Doch ungeachtet der einigermaßen trostlos erscheinenden Verhältnisse sind die Frauen in diesem Roman nicht etwa depressiv oder wehleidig, sie klagen nicht an. Vielmehr scheinen sie nach dem Motto zu handeln: Uns hilft eh keiner, also müssen wir uns selbst helfen. So verfolgen sie hartnäckig ihre dann doch wieder nicht so ausgefallenen Ziele.
Entscheidend für die erzählerische Wirkung sind der unterschwellige Humor und die Kunst der Autorin, uns die teils grotesken Begebenheiten im zumeist ärmlichen oder schmuddeligen Ambiente mit peppigen Dialogen ungemein lebensecht vor Augen zu führen. Für diese Art von realitätsgesättigtem, stellenweise auch überzeichnendem Erzählen hat der Verlag in Katja Busson eine kongeniale Übersetzerin gefunden. Der Erfolg des Werks in Japan hatte nicht zuletzt mit dem besonderen Tonfall des weitgehend im Osaka-Dialekt verfassten Textes zu tun. Dessen in Japan vertrauter Sound ist gekennzeichnet durch Mutterwitz, entwaffnende Direktheit und - für Muttersprachler - Heimeligkeit. Der versierten und trickreichen Übersetzerin ist das Kunststück gelungen, diesen Klang ins Deutsche hinüberzuretten, mitsamt Kawakamis Mix an Komik, Übertreibung und, ja, existentieller Dringlichkeit.
In einer der wirklich urkomischen Szenen - die Schwestern entspannen sich abends im öffentlichen Badehaus - fordert Midoriko die Schwester auf, ihre nackten Brüste zu taxieren: "Größe weiß ich selbst, dazu brauchst du nichts zu sagen. Aber was ist mit der Farbe? Die Farbe! Findest du meine Brustwarzen auch schwarz? Wenn ja, wie schwarz? Sei ehrlich!" Natsuko fühlt sich bedrängt und druckst herum. denn was sie sieht, ist Folgendes: "Wieder und wieder rauschten ihre Brüste und mit den Brüsten ihre Brustwarzen aus dem Wasser, stiegen, noch dazu in Zeitlupe, auf, wie das Ungeheuer von Loch Ness oder ein riesiges U-Boot. Auf ihrer Brust, die nicht größer war als die Schwellung nach einem Mückenstich, saßen in großen Höfen zwei ebenso breite wie hohe, imposante Brustwarzen. Sie sahen förmlich wie Bedienknöpfe aus. Oder liegende Autoreifen."
Möglichst hellrosa sollen Brustwarzen in Japan sein, was dortige Frauen zu Bleichmitteln greifen lässt. Auch Makiko hat sich drei Monate lang mit Peeling- und Weißmachersalben - "kostet ein Heidengeld, tut weh, juckt wie Sau" - gequält. Um sich, nebenbei bemerkt, einer als europäisch geltenden Schönheitsnorm zu unterwerfen, die zudem mit Jugend und Reinheit gleichgesetzt wird. Übrigens auch in der Literatur männlicher Autoren. Übrigens auch bei Murakami.
Doch die Ich-Erzählerin urteilt nicht. Zwar fragt sie sich: "Warum wollte sie sich die Brüste vergrößern lassen und rosa Brustwarzen haben?" Nur um fortzufahren: "Wahrscheinlich gab es gar keinen besonderen Grund. Um nach Schönheit zu streben, braucht man keinen Grund. Schön ist gut. Und gut macht glücklich."
Nun sind Themen wie Selbstoptimierung durch Schönheitsoperationen, Reproduktion ohne Partner, Ablehnung von Weiblichkeit bei pubertierenden Mädchen oder auch zunehmende Aversionen gegen Sexualität und Erotik bei jungen wie älteren Erwachsenen nicht neu, weder in Japan noch international. Die Ursachen und Hintergründe sind in vielen Ländern und Regionen vergleichbar. Interessant ist eher der jeweilige Diskurs. Was wird aus welchen Gründen angestrebt oder abgelehnt?
Kawakamis Roman lässt hinter der unkommentierten Stimmenkakophonie zwei Grundlinien ihres Erzählens anklingen: die gleichermaßen von stiller Verzweiflung wie von Trotz getragene Beobachtung sozialer Vereinzelung und Prekarisierung der Lebensverhältnisse einerseits und die etwas utopisch anmutende Vorstellung familiären Zusammenhalts als Zuflucht und Kraftquelle andererseits. Genau besehen aber haben Männer darin gar keinen Platz mehr. War doch schon seit mehreren Generationen Familie für Natsuko nur als Rumpfgemeinschaft von Müttern und Töchtern erlebbar. Wie konservativ und vergangenheitsverklärend die Häufung ihrer nostalgischen Erinnerungen an Mutter und Großmutter einzuordnen ist oder ob diese nur das demonstrative Gegengewicht zur Kritik an der spätkapitalistischen Gesellschaft bilden sollen, mag eine japanische Leserschaft erwägen.
Von Europa aus gesehen, bestätigt sich mit Kawakamis stellenweise etwas geschwätzigen Ausführungen in "Brüste und Eier" aber eine Beobachtung, die sich schon seit den fünfziger und sechziger Jahren an der Literatur japanischer Autorinnen machen ließ. In ihren verblüffend kühnen Texten zur weiblichen Sexualität, Mutterschaft und zum Verhältnis der Geschlechter werden die Erwartungen an männliche Partner ausgesprochen niedrig angesetzt. Mit unerfüllbar hohen Erwartungen an Paarbeziehungen halten sich demnach japanische Frauen nicht auf. Vielmehr widmen sie ihre Energien einer emotionalen Autonomie, die ihnen Kraft zur Verfolgung ihrer Ziele lässt - pragmatisch und jenseits romantischer Ideale. Vielleicht ist es nun an der Zeit, die Literatur ihrer auch ins Deutsche übersetzten Vorgängerinnen, von Chiyo Uno bis Fumiko Enchi, Taeko Kono, Kazuko Saegusa, Sawako Ariyoshi oder Minako Oba bis hin zu Yuko Tsushima und Hiromi Ito, neu zu lesen und ihre Lebensentwürfe im 21. Jahrhundert wiederzuentdecken.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT
Mieko Kawakami: "Brüste und Eier". Roman.
Aus dem Japanischen von Katja Busson. DuMont Verlag, Köln 2020.
495 S., geb.
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