Besprechung vom 19.06.2021
Testesser braucht es nicht mehr
Vom Acker bis zum Teller: Olaf Deininger und Hendrik Haase spüren Veränderungen der Lebensmittelwelt durch digitale Technologien nach.
Eine blinkende rote Wandlampe signalisiert im Salon den passenden Gargrad des in der klinisch sterilen Küche nebenan brutzelnden Steaks, das auf Knopfdruck hochschnellt und selbst das Wendemanöver auf der Bratvorrichtung vollzieht: Was 1958 in Jacques Tatis "Mon oncle" noch Gegenstand burlesken Witzes war, der komplett durchrationalisierte Küchenalltag, soll demnächst gang und gäbe sein. Damals ging es allerdings bloß um die Automatisierung der Küche. Den Segnungen ihrer Digitalisierung widmen sich Olaf Deininger und Hendrik Haase in ihrem Buch. Sie tun das so umfassend, gründlich und eingängig, dass einem leicht bang werden könnte auf ihrer Tour d'horizon durch die Welt von "Food 4.0".
Vielleicht noch nicht vor einzelnen smarten Küchengeräten wie dem sprachgesteuerten Ofen, der mithilfe einer Kamera und Künstlicher Intelligenz(KI) die eingeschobenen Lebensmittel erkennt und Temperatur und Zubereitungszeit selbsttätig wählt; dem ebenfalls mit Kameras und Touchscreen ausgestatteten interaktiven Kühlschrank, der Lebensmittel identifiziert und über die Kalenderfunktion des Smartphones die gesamte Planung der Mahlzeiten ab dem Einkauf übernimmt; oder dem mittels App gradgenau fernsteuerbaren Heizstab für Sous-vide-Niedertemperaturgarung. Aber diese Gadgets sind über Plattformen mit Einzelhändlern und Lebensmittelproduzenten vernetzt und damit Elemente einer Systemlösung, deren Trumpf ein Rundumservice ist, der Einkaufen, Lieferung, Rezeptdatenbank und Gesundheitsdienste umfasst. Eine vielversprechende Perspektive für Lebensmitteleinzelhändler und etablierte Marken, denen die vernetzten Geräte die Türen zu Millionen Küchen aufstoßen.
Die Bequemlichkeit auf Konsumentenseite ist teuer erkauft: mit einer permanenten Überwachung durch die Anbieter, für die detaillierte Verhaltensprofile im Wettbewerb unabdingbar sind. Zudem stellt sich die Frage, ob die Plattformen als Schnittstellen der schönen neuen Küchenwelt auch den regionalen Lebensmittel-Handwerker und den bäuerlichen Direktvermarkter werden mitspielen lassen oder ob hier die Entstehung von Oligopolen oder Monopolen droht, wie Deininger und Haase zu bedenken geben.
Andererseits kann mittels KI durch bessere Planbarkeit der Produktion die Verschwendung von Lebensmitteln vermieden werden, und es lassen sich digital sämtliche Prozesse der landwirtschaftlichen Direktvermarktung kostengünstig automatisieren. "Power to the Bauer" ist denn auch das Motto einiger Start-ups, die dabei sind, mit dezentralen, intelligenten Liefernetzwerken das Konzept des Hofladens und der Gemüsekiste logistisch zu optimieren.
Säen, Jäten, Düngen, Ernten: Autonome, lernfähige Roboter versprechen eine umwelt- und ressourcenschonende "Präzisionslandwirtschaft", ein optimiertes Management jedes einzelnen Ackers. Allerdings müssen dazu die Pflanzen und Früchte, vor allem für den Arbeitsschritt Ernte, den Maschinen angepasst werden. Und ob der Landwirt, der den Technologiewandel mitmacht, Souverän auf seinem Hof bleiben wird, sei dahingestellt. Denn die lernfähige Agrarrobotik braucht Rechenleistungen in einem Umfang, wie sie momentan nur die allergrößten Digitalunternehmen bereitstellen können. - Wem gehören die erhobenen Daten?
In der verarbeitenden, der Nahrungsmittelindustrie ist die Digitalisierung längst Treiber des rasanten Wandels. Elektronische Nasen, die Gerüche in digitale Profile, und Werkzeuge, die Nahrungsmittel bis ins kleinste chemische und sensorische Detail zerlegen können, liefern Lebensmittelarchitekten den Baukasten, aus dem diese perfekt auf Nachfrage und individuelle Vorlieben zugeschnittene Produkte basteln können, auf dem Computer und ganz ohne Forschungslabor, Versuchsküche und Testesser. Fragt sich nur, ob das noch Lebensmittel sind.
Deininger und Haase warnen angesichts dieser Szenarien vor kulinarischer Bevormundung und "digitalem Paternalismus" und mahnen, darauf zu achten, dass "wir die Akteure bleiben" und "dass auch im digitalen Zeitalter der sinnliche Bezug zu den Lebensmitteln, zu unsrem Essen erhalten bleibt". Allzu viele lagern inzwischen das "Gesundheitsmanagement" an die Technik, den digitalen Ernährungsberater aus und geben über Self-Tracking privateste Daten preis, wenn sie Fitness- und Gesundheits-Apps auf dem Smartphone, einem Wearable und anderen Gadgets wie etwa der personalisierten Lebensmittelampel auf dem digitalen Armband ihre Körperdaten einlesen und verarbeiten lassen.
Und was vor hundert Jahren unter dem Motto "Household Engineering" - "Die rationelle Haushaltsführung. Betriebswissenschaftliche Studien" lautete der Titel von Christine Fredericks 1921 auf Deutsch erschienenem Standardwerk - die Befreiung vom Joch der Hausarbeit versprach, droht heute auch noch die mit dem Essen verbundene Sinnlichkeit und den Genuss "wegzurationalisieren", vom Ritual der Tischgesellschaft ganz zu schweigen, das ob der hochgradig individualisierten Ernährungsregime ohnehin endgültig passé zu sein scheint.
Der Wunschtraum vom Tischlein-deck-dich, die Delegierung der Küchenarbeit an selbsttätige Maschinen und Prozesse könnte sich rasch zum Albtraum auswachsen. Zart angedeutet ist der "Aufstand der Dinge" schon in "Mon oncle": in den im wahrsten Sinn des Wortes eigenwilligen Küchenkästchen, die dem verdutzten Monsieur Hulot den Nerv ziehen. Im Vergleich zu dem, was droht, wenn vernetzte selbsttätige KI-Systeme aus dem Ruder laufen - Stichworte: "Hacking" und "Hijacking" -, ein geradezu rührendes Szenario.
WALTER SCHÜBLER
Olaf Deininger und Hendrik Haase: "Food Code". Wie wir in der digitalen Welt die Kontrolle über unser Essen behalten.
Antje Kunstmann Verlag, München 2021.
264 S., geb.
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