SWR Bestenliste Januar 2025
Booker Prize 2023
»Wenn es so etwas wie ein zentrales Buch für unsere Zeit gibt, dann ist es dieses. Brillant und Eindringlich« The Observer
An einem regennassen Abend in Dublin öffnet die Wissenschaftlerin und vierfache Mutter Eilish Stack ihre Haustür und steht zwei Beamten der neu gegründeten irischen Geheimpolizei gegenüber. Sie sind gekommen, um ihren Mann Larry, einen bekannten Gewerkschafter, zu verhören. Kurz nach dieser Begegnung verschwindet Larry, und sehr schnell beginnen die Dinge in Eilishs Welt aus dem Ruder zu laufen.
Irland befindet sich in der Gewalt einer Regierung, die auf dem Weg in die Tyrannei ist. Eilish findet sich in der alptraumhaften Logik einer kollabierenden Gesellschaft wieder, angegriffen von unsichtbaren Kräften, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Sie ist gezwungen, alles zu tun, um ihre Familie zu schützen und alle zusammenzuhalten. Wie soll sie ihren Kindern erklären, was passiert ist, wenn sie nach dem Vater fragen? Wie wird ihr eigener zunehmend dementer Vater auf die gravierenden Veränderungen seines Alltags reagieren? Und wie weit wird Eilish selbst gehen, um sich und ihre Familie zu retten? »Das Lied des Propheten« ist ein atemloses Porträt einer Familie am Rande der Katastrophe, das stilistisch und emotional seinesgleichen sucht. Paul Lynchs meisterhafter Roman ist das Buch der Stunde - und ein Appell, die entstehenden autoritären Regime der Gegenwart zu bekämpfen.
»Ein Triumph des emotionalen Erzählens, mutig und anregend« Booker Prize Jury
»Ein wichtiges und unvergessliches Leseerlebnis. « The Guardian
»Einer der erschütterndsten und provokativsten Romane, die ich seit langem gelesen habe. « Scotsman
»Paul Lynch ist einer der meistgefeierten irischen Schriftsteller seiner Generation und 'Das Lied des Propheten' ist Irlands '1984'. « Telegraph
»Ein Meisterwerk« Big Issue
»Erschreckend plausibel« Irish Times
Besprechung vom 16.01.2025
Direkte Rede empfindet er als Perversion
Eine Prosa mit unverkennbar irischem Charakter und schwelgerischer Gutmenschen-Aura: Paul Lynchs Roman "Das Lied des Propheten"
Bevor der Leser erfährt, wovon Paul Lynch in "Das Lied des Propheten" erzählt, sticht bereits in den ersten Sätzen des dystopischen Romans über den Zusammenbruch der Zivilgesellschaft in einem totalitären Irland der unverkennbar irische Charakter der Prosa hervor. Wie das Aroma eines Weins die Rebsorte und das Terroir verrät, geben irische Gegenwartsautoren bei aller Vielfalt und Individualität des Ausdrucks ihre Herkunft durch einen speziellen Tonfall preis, der sich nicht nur durch den Stoff oder die Schwingungen der Sprache definiert. Es frappiert immer wieder, wie die mündliche Tradition der alten gälischen Barden trotz der jahrhundertelangen Anglisierung in der Anschauung, der Leidenschaft für das Geschichtenerzählen und der Sprachmelodie der zeitgenössischen irischen Literatur nachhallt.
Schon zur Tudor-Zeit machten die englischen Eroberer ihre Macht über Irland auch durch die Benachteiligung der Bevölkerung geltend, die des Englischen nicht mächtig war. Der Dichter, Politiker und Jurist Sir John Davies, der unter dem Stuart-König Jakob I. als Generalstaatsanwalt in Irland die Ausdehnung des englischen Rechts auf die Insel vorantrieb, stellte 1612 in einer Einschätzung der "wahren Gründe, weshalb Irland nie ganz bezwungen worden ist", Fortschritte in der Sprachpolitik fest. Er berichtete, dass die meisten Iren ihre Kinder in die Schule schickten, damit sie Englisch lernten, um bei Rechtsstreitigkeiten nicht auf einen Übersetzer angewiesen zu sein. Nach dem Prinzip, dass die Kontrolle über die Sprache das Denken beeinflusst, schöpfte Davies die Hoffnung, dass die nächste Generation in Sprache, Gefühl und in jeder anderen Hinsicht englisch werden würde. Seine Prophezeiung ging nur teilweise in Erfüllung.
Im 18. Jahrhundert war die zunehmend als Zeichen von Rückständigkeit geltende gälische Sprache außer in der ärmlichen Landbevölkerung am westlichen Rand der Insel denn auch aus dem allgemeinen Gebrauch verdrängt worden. In der Zeit der Nationalismen ging der politisch-kulturelle Widerstand gegen die englische Krone jedoch mit einer Rückbesinnung auf die keltischen Wurzeln einher. Aus dieser identitären Bewegung entsprang zur Jahrhundertwende die sogenannte irische Renaissance - das Aufblühen einer das gälische Vermächtnis und internationale Einflüsse in englischer Form verschmelzenden Nationalliteratur, die sich vornahm, das noch nicht erschaffene Bewusstsein des irischen Volkes in der Schmiede ihrer Seele zu schmieden, um den Vorsatz von Stephen Dedalus am Ende von James Joyces "Porträt des Künstlers als junger Mann" zu umschreiben. So kritisch Joyce und Samuel Beckett die Irische Renaissance als die Domäne sentimentaler Antiquare sahen, bezog sich die Bewegung nicht nur auf die Vergangenheit. Im spannungsreichen Wechselspiel von Romantik und Moderne barg sie auch die Keime des Kommenden in sich und wies über W. B. Yeats und John Millington Synge zu Joyce und Beckett und weiter zur dynamischen irischen Literaturszene von heute, in der eine Fülle von preisgekrönten irischen Schriftstellern wie John Banville, Colm Tóibín, Claire Keegan und eben Paul Lynch die literarische Tradition fortsetzt. Deren Lebendigkeit zeigt sich auch darin, dass Lynch beim Rennen um den Booker-Preis, das er mit "Das Lied des Propheten" gewann, auf der Longlist einer von vier Iren unter den dreizehn Autoren aus den anglophonen Ländern der Welt war.
Seine von Eike Schönfeld getreu übersetzte Sprache ist weniger experimentell als die vielschichtige Prosa von Joyce, doch offenbart der lyrische Gedankenfluss, mit dem Lynch den Leser zu Beginn von "Das Lied des Propheten" in den Kopf der Hauptprotagonistin Eilish Stack versetzt, wie stark er in der Schuld des literarischen Ahnen steht. Davon zeugt auch der Verzicht auf Absätze und Anführungszeichen für direkte Rede. Joyce bezeichnete sie in Verballhornung von "inverted comma" als "perverted commas", weil er fand, dass sie unansehnlich seien und einen Eindruck von Unwirklichkeit erzeugten. Stattdessen verwendete er Gedankenstriche, von denen Lynch ebenfalls absieht. Bei ihm spiegelt das nahtlose Ineinanderfließen von Dialog und Beschreibung die Aufhebung der Ordnung und die verschwommenen Grenzen zwischen den wiederkehrenden Albträumen von Eilish Stack und der albtraumhaften Wirklichkeit, die eines Abends mit einem beharrlichen Klopfen an der Tür in ihr Leben einbricht und ihre Welt brutal zerschmettert.
Unter dem Vorwand, eine Staatskrise in den Griff zu bekommen, hat eine frisch gewählte Nationalpartei, deren Politik im Roman nie definiert wird, das Grundrecht durch Notverordnungen außer Kraft gesetzt. Eilishs Mann, ein hoher Vertreter der Lehrgewerkschaft, die sich für höhere Löhne einsetzt, wird bei einer Demonstration festgenommen und verschwindet wie unzählige andere dem autoritären Regime unliebsame Personen spurlos. Während alles um sie herum kollabiert, muss Eilish sehen, wie sie allein ihre vier Kinder und ihren zunehmend dementen Vater durchbringt, dessen Verfall das Abgleiten in den Abgrund versinnbildlicht. Alte Bekannte tragen plötzlich das Parteiabzeichen am Revers. Überall, auch im Büro von Eilish, werden Positionen mit der Parteilinie entsprechenden Personen besetzt und Regimegegner ausgegrenzt. Das Land schliddert in den Bürgerkrieg, die Stadt wird bombardiert, Leichen von Opfern des Regimes tragen Zeichen von horrender Folter, die Infrastruktur versagt. Erst fließt das Wasser braun und dann bisweilen auch gar nicht mehr aus dem Hahn, der Strom fällt aus, katzengroße Ratten tummeln sich um die überquellenden Mülltonnen, und Gewinnler machen einen Reibach. Das Unvorstellbare, das die Menschen im Westen in Fernsehberichten aus fremden Ländern sehen, im Glauben, dagegen gefeit zu sein, geschieht in Irland.
Solange ihr Mann nicht zurückkehrt, weigert sich Eilish, zu fliehen oder den Vater zu ihrer Schwester in Kanada ausschleusen zu lassen. In seinem labilen Zustand müsse er "von seinen Erinnerungen umgeben sein, die Vergangenheit griffbereit haben", erklärt sie der Fluchthelferin und spricht dabei auch für sich. Sie sieht, wie die Kinder leiden und wie sie selbst "unter einem fremden Himmel" vom eigenen Körper und von der Umgebung losgelöst zu sein scheint, als stünde sie "vollkommen außerhalb der Zeit". Eilish versucht die Kinder zu beruhigen: "Wir leben doch nicht in irgendeiner finsteren Ecke der Welt, die internationale Gemeinschaft wird eine Lösung aushandeln." Die Schwester warnt, dass die Geschichte "eine stumme Liste derer ist, die nicht wissen, wann sie gehen müssen".
Angestoßen von der syrischen Flüchtlingskrise und den Entwicklungen in den westlichen Demokratien, überträgt Lynch die verheerenden Umstände im Nahen Osten nach Dublin. Im Unterschied zu berühmten Dystopien wie George Orwells "1984" oder Margaret Atwoods "Der Report der Magd" ist "Das Lied des Propheten" nicht in der Zukunft, sondern in einer unbestimmten Gegenwart angesiedelt. Lynch will gegen die Gleichgültigkeit des Westens anschreiben. Er bezeichnet seinen Roman als einen Versuch der "radikalen Empathie" mit dem Ziel, den Leser derart in die Dystopie einzutauchen, dass er am Ende des Romanes nicht nur mit dem Problem vertraut sei, sondern es auch fühle. Anfangs zieht Lynch den Leser mit der Bildhaftigkeit der Sprache in den Sog. Doch dann wiederholen sich die Bilder. Immer wieder gesichtslose Menschen, dunkle Schatten und die Erfahrung, sich unvertraut im Spiegel zu sehen. Das eine selbstverliebte, effekthascherische Gutmenschenaura suggerierende Schwelgen in der Formulierungskraft macht Sehnsucht nach der sparsamen Prosa von Claire Keegan, die mit wenigen Worte äußerste Erschütterung vermittelt. Lynchs Botschaft, dass der Prophet nicht vom Ende der Welt singt, "sondern davon, was getan worden ist und was getan werden wird und was manchen angetan wird, aber nicht anderen", ist eine Binsenwahrheit. GINA THOMAS
Paul Lynch: "Das Lied des Propheten". Roman.
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2024. 320 S., geb.
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